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»Noch nichts von Grischa?«, fragte Christian unnötigerweise, um überhaupt etwas zu sagen.

Thilo schüttelte den Kopf. »Ist bestimmt aus der Stadt hinaus. Vielleicht mit einem Schiff. Wird auch besser sein.«

Sein Blick zum Fenster war ungläubig. Alle hatten sie das Bedürfnis, sich zu kneifen, um aus diesem Albtraum aufzuwachen.

»Hanno hat ein paar Bretter aufgetan und die Schaufenster vernagelt«, berichtete Thilo. »Gegen Plünderer. Stell dir das mal vor.«

»Erinnert mich an damals«, erwiderte Christian. »An die Franzosenzeit.«

Ein leises Lächeln wanderte zwischen den beiden Brüdern hin und her wie das zweier altgedienter Veteranen.

»Sollen wir Vadder vielleicht nicht doch hochholen?«, schlug Christian vor. »Wenigstens bis nach dem Essen?«

Thilo nickte bedächtig, obwohl sicher keinem so recht der Sinn nach einer Mahlzeit stand, und erhob sich mühsam. In der Wohnungstür stieß er mit Hanno zusammen, der unbedingt zu Betje wollte.

»Stell dir vor, Fiete ist da«, platzte Hanno freudestrahlend heraus, der sich den halben Tag schon um seinen Freund gesorgt hatte. »Hat ganz verschämt gefragt, ob bei mir in der Kammer noch Platz wäre. Und Jordis ist dabei, völlig verheult, weil ihre Herrschaft sie nicht gehen lassen wollte, bis sie alles Silber eingepackt hat, dabei waren die Flammen da schon ganz nahe. Weggerannt ist sie dann trotzdem. Jetzt ist sie wohl gefeuert, aber bei Herrn Petersen hat sie erst einmal ein Dach über dem Kopf.«

Abrupt verstummte er, den Blick auf Henny in ihrem Winkel des Sofas gerichtet.

»Frau Petersen«, sprach er sie sanft an. »Frau Petersen. Geht es Ihnen nicht gut?«

Mühsam hob Henny die Lider, dicke Schweißperlen auf dem Gesicht.

»Henny.« Zärtlich strich Christian ihr die nassen Haarsträhnen aus der Stirn.

Ein schwaches Lächeln zitterte um ihren Mund, die sonst so klaren Augen trüb, und Christian verstand.

»Versuch bitte, irgendwo einen Doktor oder eine Hebamme aufzutreiben«, bat er Hanno, der sofort losspurtete.

Auf einen fragenden Blick von ihm hin holte Betje Marie zu sich, und Christian schloss seine Frau in die Arme. Angstvoll spürte er den Wehen nach, die eine nach der anderen durch ihren Leib liefen.

»Das kann wieder nur mir passieren«, murmelte Henny in einem Anflug von Galgenhumor an seiner Halsbeuge. »Hamburg brennt, und ich krieg ein Kind.«

»Das schaffst du«, flüsterte Christian, die Erinnerung an Maries Geburt noch kalt im Genick. »Wird alles gut, mein Herz.«

»Katya?«, fragte sie Hilfe suchend und blinzelte suchend durch den Raum. »Ich will Katya dabeihaben. Wo ist Katya?«

41

Katya rannte über die Brooksbrücke, doch gleich dahinter musste sie gegen die kreuz und quer umherirrenden Menschen ankämpfen, die ihr entgegenströmten, beladen mit Säcken und Taschen, eine Kommode auf den Schultern, ein gerahmtes Gemälde unter den Arm geklemmt. Unter den Rufen, den panischen Schreien war immer wieder Klirren zu hören, wenn etwas zu Bruch ging. Wer zu schwer zu schleppen hatte, warf seinen Ballast einfach an Ort und Stelle ab. Die Gasse war vollgestopft mit Schränken, Tischen und Stühlen, die ein Vorwärtskommen genauso erschwerten wie ein Umkehren. Dazwischen waren Fuhrwerke und Karren liegen geblieben, die ein Rad verloren hatten oder einfach unter ihrer Last zusammengebrochen waren, aufgescheuchte Hunde und Katzen liefen einem zwischen den Beinen herum, und Ratten.

Noch vor dem Ende der Mattentwiete stellte Katya fest, dass sie den Speicher nicht auf dem Weg erreichen würde, den sie hatte nehmen wollen. Einen Augenblick blieb sie stehen und sah über das Nikolaifleet hinweg direkt in das Herz der Hölle.

Wie ein schweres Gewitter war es, das auf der Stadt lag und Funken und Glut herabregnen ließ. Unter finsteren Rauchwirbeln zersprengte das Feuer Fensterscheiben und schoss in lodernden Fontänen aus den Häusern. Flammen leckten über die Dächer und zum Himmel hinauf, bevor das verkohlte Haus beim nächsten Wimpernschlag in sich zusammensackte und nichts als glosenden Schutt übrig ließ. Wie kleine Teufel glommen überall Flämmchen auf, tanzten durch die Luft und sprangen von Haus zu Haus, zündelten an den Holzpfeilern des Fleets, in dem sich hoffnungslos überladene Kähne ineinander verkeilt hatten und die Schiffer sich gegenseitig anbrüllten.

Das Schlimmste waren die Geräusche, das boshafte Knistern und Prasseln, ein bedrohliches Rauschen. Und der Geruch, nicht nur nach kokelndem Holz, sondern nach der Asche vollkommener Vernichtung.

Katya bog in die Katharinenstraße ab, wo die Bewohner ihre Dächer mit Wasser aus Eimern übergossen, und drängte sich dann zwischen den Menschen auf der Reimersbrücke hindurch. Ein Lächeln zuckte kurz auf ihrem Gesicht auf, als sie sah, dass wenigstens Sankt Katharinen noch stand, ihr Turm von einer Brandspritze vorsorglich nass gehalten.

Im nächsten Augenblick schrie sie auf, als eine Hand sie packte und zurückriss. Erschrocken starrte sie in Christians Augen, blau funkelnd vor Zorn.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte er sie an.

»Lass mich!«

Sosehr sie auch ruckte und zerrte, er ließ sie nicht los, packte nur fester zu. Erst als sie ihn vor das Schienbein trat, bekam sie sich frei und stolperte weiter, links und rechts an den ihr entgegenhastenden Menschen vorbei. Unwillig den Kopf schüttelnd, um Christians Stimme auszublenden, der ihren Namen brüllte.

Urplötzlich war der Weg vor ihr offen, da riss Christian erneut an ihrem Arm, dass ein stechender Schmerz durch ihre Schulter jagte.

»Herrgott, Katya, nimm doch Vernunft an! Du rettest den Speicher nicht mehr!«

Aus dem Augenwinkel konnte sie die Flammenwalze erkennen, die sich unerbittlich durch die Stadt fraß, über das hinweg, was einmal Sankt Nikolai und der Hopfenmarkt gewesen waren, und Verzweiflung schlug über ihr zusammen.

»Aber das Eis! Das Eis, Christian!«

»Das Eis wird es überstehen, sogar noch in der Hitze. Hast du mir nicht immer erklärt, dass Eis eine Ewigkeit hält, wenn nur genug davon da ist, auch unter sengender Sonne und im Feuer?«

»Nicht in dieser Hölle!«

Wie in einem Ofen waberte die Luft über ihre Haut und hinterließ einen öligen Film.

»Es ist zu heiß, Christian.« Katya bemerkte selbst, wie sich ihr Gesicht zu einer Fratze verzog, als sie zu weinen begann wie ein kleines Kind. »Und spätestens danach wird es schmelzen, danach wird nichts mehr da sein, was es davor schützt, sich einfach aufzulösen. Ich kann doch nicht zusehen, wie wir unser Eis verlieren.«

Es ging nicht um das Eis. Es ging um sie selbst, ohnmächtig und haltlos, wie sie sich fühlte, seit Pawel nicht mehr da war. Seit ihr Leben, wie sie es gekannt hatte, in Trümmern lag.

»Es tut mir leid, Katya. Es tut mir unendlich leid, was ich getan habe. Aber Pawel hat sich nun einmal dafür entschieden, das Geld zu nehmen.«

Katya schlug zu, so fest sie konnte, und als Christian nicht reagierte, nur ein Muskel in seinem Gesicht zuckte, gleich noch einmal.

Weg da! Weg da! Durch den dicken Rauch, der sich erstickend auf die Lunge legte, drangen energische Männerstimmen zu ihnen hindurch.

»Henny bekommt gerade unser Kind«, presste Christian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und mir fällt nichts Besseres ein, als dir durch die halbe Stadt nachzulaufen, damit du nicht im Feuer umkommst. Gibt dir das gar nicht zu denken?«

»Armer Christian«, spottete Katya unter Tränen. »Du weißt ja immer genau, was das Beste ist, trampelst dabei auf allen herum und verstehst nicht, dass dich niemand dafür lobt!«

Christian packte so hart zu, dass er ihre Armknochen unter den Fingern fühlte. Er wollte sie schütteln, sie anbrüllen, damit sie ihm vergab. Sie bei der Hand nehmen und mit ihr durch das Feuer springen, in einen anderen Tag hinein.

Haut ab!

Schemenhaft nahm Christian die Umrisse zweier Männer wahr, ihre ruckartigen Armbewegungen von wütender Entschlossenheit. Aus reinem Instinkt heraus zerrte er Katya mit sich wie ein störrisches Maultier, so laut sie auch schrie und die Fersen in den Boden stemmte; beinahe genoss er es, der Stärkere zu sein und ihr wehzutun. Aus brennenden Augen konnte er dunkle und massive Konturen erkennen, vielleicht ein auf der Gasse stehender Schrank, es war ihm egal. Er schaffte es gerade noch, Katya dahinter zu Boden zu stoßen und sich über sie zu werfen, bevor ein lauter Knall die Luft zerriss und die Wucht der Sprengung ihnen um die Ohren flog, Steinchen, lose Latten und Metallsplitter auf sie einprasselten.