Ich habe doch immer nur dich geliebt , ging es ihm verzweifelt durch den Kopf.
Angespannt knabberte Betje an einem Fingernagel. Auf seinen Stock gestützt, stand Arno Petersen im Türrahmen und betrachtete mit ernster Miene Henny, die gekrümmt und stöhnend auf Katyas Bett lag. Thilo war bei ihr und hielt ihre Hand, die beiden Mädchen hatte Jordis nach unten in die Wohnung geholt und wollte sie solange beschäftigen.
»Mindestens zwei Stunden, sagst du?«, brummte Arno.
Hanno nickte und wischte sich mit dem Hemdsärmel über das schweißnasse Gesicht, völlig außer Atem war er.
»Fiete steht unten und hält Ausschau, falls der Doktor es doch früher schafft. Sind einfach zu viele Verletzte.«
Wenn er überhaupt kam, schien sein Gesicht zu sagen.
»Auch keine Hebamme zu fassen gekriegt? Keine von den Nachbarinnen?«
Hanno schüttelte betreten den Kopf. Arno gab einen missbilligenden Laut von sich.
»Ist bei meinen Jungs zwar schon eine Weile her, aber das dauert hier sicher keine zwei Stunden mehr. War einer von euch schon mal dabei, wenn ein Kind kommt?«
»Die Tante hat uns immer rausgeschickt«, erklärte Betje.
Hanno schluckte. »Nur bei Kälbern und Lämmern.«
Arno nickte entschlossen und schlug ihm auf die Schulter. »Wird’s tun.«
Während Thilo sich um einen beständigen Nachschub an heißem Wasser kümmerte, stützte Arno Petersen seine Schwiegertochter im Rücken. Betje, die Henny mit einem feuchten Tuch die Stirn abwischte, konnte nur über Hanno staunen. Als hätte er das schon ein Dutzend Mal gemacht, kniete er zwischen Hennys angezogenen Beinen, tastete fachmännisch auf ihr herum und sprach liebevoll mit ihr. Ab und zu riss er sogar einen Witz, der Henny zwischen zwei Wehen in einem Auflachen nach Luft schnappen ließ.
Wäre da nur nicht immer der Gedanke an Katya gewesen, der Betjes Blick furchtsam zum Fenster wandern ließ. Zu den wabernden schwarzen Wolken, dem unheimlich glühenden Widerschein.
Bitte, lieber Gott. Mach, dass Katya nichts geschieht.
Beinahe hätte sie den Moment verpasst, in dem das Kind herausflutschte, in Hannos Hände hinein.
Ein Menschlein, so neu, dass die Haut noch ganz dünn war und wie von Politur glänzte und trotzdem Falten mit der Würde alter Jahre warf. Der rote Mund war trotzig aufgeworfen, die Stirn zornig gefurcht, der erste Schrei eine unmissverständliche Verkündung.
Ich bin hier!
»Halt mal kurz«, hörte sie Hanno sagen, während Henny an der Schulter ihres Schwiegervaters weinte. »Ich muss mich um Nabelschnur und Nachgeburt kümmern.«
Gehorsam rutschte Betje herüber und ließ sich das Neugeborene in die rechte Armbeuge legen, obwohl sie zitterte vor Angst, es fallen zu lassen. Dieses zerbrechliche Leichtgewicht, das doch so schwer wog. Im überwältigenden Geruch von Blut und Schweiß und Schleim und Rauch, der dick im Raum stand, band Hanno die Nabelschnur mit Zwirn ab und durchtrennte sie mit Katyas Stoffschere. Ein Rettungsseil, das dieses Kind nun nicht mehr benötigte. Mit offenen Armen schien es die Welt zu begrüßen, seine Miene voller Stolz, eine eigene kleine Person zu sein.
Mit großen Augen und offenem Mund besah Betje sich dieses neue Leben, das sich auf ihrem Arm regte, ein seliges Flattern in ihrem Bauch.
In Unterhemd und Unterrock kauerte Katya benommen auf dem Sofa ihrer guten Stube, ein Klingeln in den Ohren, Mund und Kehle wie mit Sand gefüllt, obwohl sie sich dunkel an Wasser in großen Gläsern erinnerte, das sie hinuntergestürzt hatte. Genauso vage war die Erinnerung daran, wie Christian ihr aufgeholfen hatte und sie sich aufeinander gestützt zurückschleppten, das Feuer hinter ihnen ein zornig brüllender Drache, dessen Hitze an ihnen leckte, mit glühenden Speicheltropfen Löcher in ihre Kleider und die Haut darunter sengte. Christians heisere Rufe im Treppenhaus hatten Thilo herabeilen lassen, der Katya die restlichen Stufen getragen hatte, während Betje nebenherlief und immer wieder fragte, ob ihr etwas wehtat.
Alles tat ihr weh, und gleichzeitig war alles wie taub.
Jetzt sog sie doch scharf die Luft ein, als Thilo eine Schramme in ihrem rußverschmierten Gesicht mit einer beißenden Flüssigkeit betupfte.
»Entschuldige.«
Das verstauchte Handgelenk hatte er ihr bandagiert, was mit dem blauen und auf die Größe einer Sellerieknolle angeschwollenen Knöchel war, musste der Doktor sich ansehen. Sofern er jemals kam.
»Du hättest einen guten Arzt abgegeben.«
»Mhm«, murmelte Thilo und widmete sich einer Brandblase an ihrem Hals. »Wäre ich auch gern geworden, wir hatten nur kein Geld dafür. Ich bin aber auch als Geschäftsmann zufrieden.«
Er nahm ihre Hand und drehte ihren Arm hin und her, um weitere Blessuren zu entdecken, die einer Behandlung bedurften. So nahe waren sie einander eine Ewigkeit nicht mehr gewesen.
Er fing ihren Blick auf und hielt ihn fest. »Ich hatte große Angst um dich.«
Katya nickte zittrig. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Das war dumm von mir.«
»Eine kluge Frau darf auch einmal töricht sein.«
Ein kleines Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen. Lange sahen sie einander in die Augen, forschend, fragend, tastend. Mit einem tiefen Atemzug legte Thilo die Hände um ihr Gesicht und seine Stirn an ihre.
»Auch wenn ich dir kein guter Ehemann gewesen bin … Auf einer Welt, in der es dich nicht gibt, möchte auch ich nicht sein.«
Wortlos überließen sie sich der behutsam flüsternden Ahnung, dass das zwischen ihnen größer und stärker sein konnte als reine Lust und Begehrlichkeiten. Etwas Unbezwingbares, Unauslöschliches, das zu kostbar war, um es leichtfertig aufzugeben.
»Komm nach Hause, Thilo«, wisperte Katya irgendwann, und als er nickte, schlug ihr Herz leicht und frei.
Eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds ließ sie aufblicken. Christian war es, der mit seiner neugeborenen Tochter auf dem Arm im Flur auf und ab ging, ähnlich verrußt und blutverschmiert wie Katya und von Hanno nach Thilos Anweisungen notdürftig verarztet. Unschlüssig blieb er jetzt stehen. Erst auf einen kleinen Wink Katyas hin trat er ein und legte ihr das Bündel in die Arme.
Lächelnd vertiefte sich Katya in den Anblick des Neuankömmlings. Einen lichten Flaum auf dem Köpfchen wie der einer Aprikose, spiegelte sich in dem noch so frischen Gesicht die Ähnlichkeit mit Arno, Thilo und Christian wider. Eine kleine Petersen, durch und durch, bis hin zu dem entschlossenen Zug um den Mund, der zweifelnden Skepsis, mit der die opalhellen Augen Katya musterten; zwischen den Tuchfalten lugte eine geballte Faust hervor.
»Eine Kämpferin bist du«, flüsterte Katya. »Wolltest unbedingt auf die Welt kommen, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Jetzt schon eine Draufgängerin, mitten im Feuer geboren. Deine Eltern können sich auf was gefasst machen.«
»Wir wollen sie Cathrin nennen«, sagte Christian, nicht nur heiser vom Rauch.
Katya nickte. Ein Friedensangebot, das war nicht misszuverstehen.
Sie hob den Blick zu Christian, der ihr heute wohl das Leben gerettet hatte, vielleicht waren sie damit quitt. Vergessen würde sie trotzdem nie, das wusste auch er, sie sah es in seinem Blick.
Fast förmlich und wie anerkennend nickten sie einander zu, der fehlgeleitete Ritter und seine schöne Dame ohne Gnade. Dann ging Christian, um nach Henny zu sehen, die nicht aufhören konnte zu weinen. Weil dieses Kind, das es nie hätte geben sollen und ihr eine solch schockierend leichte und schnelle Geburt beschert hatte, nicht nur wieder ein Mädchen war, sondern dazu noch mit einem hässlichen Mal am Hals gestraft.