Im schummrigen Laternenlicht des Treppenhauses saß Betje auf den Stufen, den Kopf an die Streben des Geländers gelehnt. Der einzige Ort gerade, an dem sie allein sein und ihren Tränen freien Lauf lassen konnte. Viel zu viel war heute auf sie eingestürmt, hatte sie überwältigt und aufgewühlt und erschöpft. Und noch immer brannte Hamburg, mit Einbruch der Dunkelheit ein solch schauriger Anblick durch die Fenster, dass sie froh war, ihm hier entfliehen zu können.
Hinter sich hörte sie Schritte die Treppen herunterspringen, hastig wischte sie sich über das Gesicht und richtete sich auf. Hanno war es, der sich neben sie setzte, eine Flasche und zwei Schnapsgläser in den Händen.
»Ich hab dich überall gesucht«, sagte er vergnügt. »Arno Petersen gibt uns einen aus. Er findet, du bist schon alt genug dafür.«
Während er ihnen eingoss, warf er ihr einen Blick zu. »Ist es wegen des Feuers?«
Der scharfe Dunst aus dem Glas trieb ihr erneut Tränen in die Augen. »Ja. Nein. Auch.«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, versprach er. »Wir sind hier weit genug weg. Außerdem wacht Störtebekers Geist über den ganzen Grasbrook. Hat Pawel einmal erzählt.«
»Wo er wohl hin ist?«, fragte Betje betrübt, sie vermisste Pawel und fast mehr noch Pies.
Hanno zuckte mit den Schultern. Die Werkstatt leer vorzufinden war auch für ihn ein harter Schlag gewesen. Am nächsten Tag hatte er umso energischer die Kisten im Laden umhergewuchtet, bis seine Wut verraucht gewesen war.
»Wird das immer so sein«, murmelte Betje, ein Schluchzen in ihrer Kehle festgeklemmt, »dass die Leute, die man mag, einfach weggehen?«
Hanno drehte das Schnapsglas in seinen Fingern. Manchmal dachte er noch an seine Schwester Frauke, auf die gleiche Weise, wie er an seine Mutter dachte. Liebevoll und ein bisschen traurig, als jemand, der einmal zu seinem Leben gehört hatte, bis er ihn gehen lassen musste, weil das der Lauf der Dinge war. Manche Abschiede waren endgültig, manche Verluste unwiederbringlich.
»Ich nicht«, sagte er jetzt im Brustton der Überzeugung. »Ich bleibe. Für immer.«
»Aber wenn morgen nichts mehr von Hamburg übrig ist?«
»Irgendetwas bleibt immer übrig. Und irgendwer muss die Stadt doch wieder aufbauen, und diese Leute brauchen dann auch was zu essen.«
Mit einem feinen Klingen stieß sein Glas an das Betjes.
»Vergiss nicht, du und ich haben heute ein Kind auf die Welt geholt!«
Beide stürzten sie den Schnaps hinunter. Hanno keuchte auf und hämmerte sich mit der Faust aufs Brustbein, während Betje mit wässrigen Augen erstickt hustete. Ihre Kehle fühlte sich verätzt an, aber die glühende Spur, die der Schnaps durch sie hindurchzog, bevor er warm im Bauch landete, mochte sie. Noch mehr dieses weiche Gefühl, das sich bald darauf in ihrem Kopf einstellte.
»Weißt du, was ich heute gedacht habe?«, flüsterte sie nach einer Weile, wie verschämt, überhaupt solche Gedanken zu haben. »Wenn ich je ein Kind kriege … Wie soll ich das denn versorgen, mit nur einem Arm?«
»Na ja«, meinte Hanno sachlich, »das Kind wird ja auch einen Vater haben.«
»Aber wenn der mich nicht mehr will, sobald das Kind da ist?«
»Dann bin ich ja auch noch da.«
Betje musste aufstoßen. »Was sagt dann deine Frau dazu?«
Hannos Gesicht wurde heiß.
Er musste an Lotte denken, die im Laden immer die Besorgungen für ihre Großmutter machte, weil die ein offenes Bein hatte. Lotte war irrsinnig hübsch, die grünen Augen strahlend im herzförmigen Gesicht, die Zöpfe unter der Haube glatt und glänzend wie die Kastanien im Herbst. Lustig war sie, ein ganz famoses Mädchen. Warum hätte er nicht mit ihr am Wasser spazieren gehen sollen, mal am Sonntag, mal nach seinem Feierabend, vorletzten Sommer, als Betje noch fort gewesen war.
Du küsst gut , hatte Lotte in dem dunklen Winkel unter der Treppe gehaucht. Magst du noch mit hochkommen? Meine Mutter kommt erst spät, ihre Herrschaft hat Gäste.
Ihr Finger, der unter seinem Hemdkragen entlangstrich, hatte ihm wohlige Schauder über den ganzen Körper geschickt.
Natürlich war er versucht gewesen, die Wölbungen unter Lottes Bluse weich an seiner Brust, ihre Hüfte anschmiegsam unter dem Rock. Trotzdem hatte er sie losgelassen und verlegen den Kopf geschüttelt, er hatte an Betje denken müssen.
Ist sie hübscher als ich? , hatte Lotte mit weiblichem Spürsinn erraten, den Kopf schräg gelegt.
Eine jener Fangfragen, die Mädchen so gern stellten und bei denen man als Mann nur verlieren konnte. Nach gewöhnlichen Maßstäben war Lotte bestimmt hübscher als Betje, aber Betje war eben Betje, deshalb hatte er geschwiegen.
Ich hoffe, sie ist es wert, hatte Lotte dann gesagt, ihn auf die Wange geküsst und war die Treppen hinaufgesprungen. Hanno hatte geseufzt, sich verstohlen die Hose bequemer zurechtgezogen und war mit glühenden Ohren nach Hause gegangen, aber mit reinem Gewissen.
Er wandte den Kopf. Betje sah ihn noch immer an und wartete auf seine Antwort, ihre Wimpernbögen wie Kupferspäne, die Sommersprossen so dicht, dass ihre Haut im Lampenschein geheimnisvoll schimmerte.
Hanno beugte sich vor und legte seinen Mund auf ihren. Das Erstaunen in ihren Augen sprang auf ihn über, als sie diesen Kuss erwiderte, ihre Zungenspitze ihm sogar entgegenkam, und hinter dem Schnapshauch schmeckte sie genau so, wie er es sich immer vorgestellt hatte, als würde er nach einem heftigen Regenguss durch einen sonnigen Wald laufen.
Mit einem tiefen Atemzug löste er sich von ihr und strich ihr mit dem Zeigefinger über die Wange.
»Mehr hab ich dazu nicht zu sagen, Betje Hermanns«, flüsterte er.
42
Sattes Abendlicht stahl sich durch die Ritzen oben unter dem Dach. Betje atmete tief den Duft von Mehl und Jutesäcken ein und einen Hauch von Salz, der wie die Aufregung in ihrem trockenen Mund schmeckte.
Noch immer stieg einem hin und wieder der Geruch von Rauch in die Nase, mehr als eine Woche nachdem der Speicher in der Deichstraße in Brand geraten war. Vielleicht auch nichts als Einbildung, eine Erinnerung, die sich in die Sinne geätzt hatte, in den Tagen des Feuers.
Neunundsiebzig Stunden lang hatten die Flammen gewütet, von der Nacht auf Donnerstag bis in den Sonntag hinein, als das letzte brennende Haus gelöscht werden konnte. Von der Deichstraße über Rödingsmarkt und Hopfenmarkt zum Nikolaifleet, bis zur Binnenalster und der Großen Bleichen hinauf war Hamburg abgefackelt, auch Sankt Petri und die Synagoge waren abgebrannt. Vier Dutzend Tote waren zu beklagen, soweit man wusste. Es hätte schlimmer kommen können.
Seither platzte der Kehrwieder aus allen Nähten. Von den Flüchtlingsströmen, die sich ab Freitagmorgen über die Brücken ergossen hatten, hatten nur wenige Menschen danach noch ein Zuhause gehabt, in das sie zurückkehren konnten. Auch Christian und Henny Petersen nicht. Katya hatte ihnen und den Kindern die große Wohnung überlassen und war mit Betje zu Arno gezogen. In ein gemeinsames Zimmer mit Thilo. Betjes Herz schlug jedes Mal freudig, wenn sie daran dachte.
Fast jeder, der konnte, machte ein oder zwei Zimmer frei für die Leute, die alles verloren hatten. Das war Hamburg, wenn es eng wurde, rückte man zusammen. Und genauso typisch war es, dass sie am Sonntag nach dem Dankgottesdienst in Sankt Katharinen die Bretter von den Schaufenstern des Gemischtwarenladens lösten, die Scheiben putzten und die Asche zusammenkehrten, die bis in den letzten Winkel verweht war, Toonbank und Waage polierten. Denn ab Montagmorgen wurde in Hamburg wieder gearbeitet, nahm man das alltägliche Leben genau dort wieder auf, wo es unterbrochen worden war. Emsiger und entschlossener als zuvor, während man in der Innenstadt bereits begann, den Schutt zu beseitigen.
Betje harrte weiter oben auf dem Dachboden aus und lauschte auf jedes Knarzen hinter der Tür zu Hannos Kammer, während sich ihr Magen nervös zusammenzog, ihr Herz bis in den Hals pochte. Sie atmete noch einmal durch, strich sich über ihre beste Bluse, den guten Rock und klopfte an.