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Hannos Herz schlug wie wild. Als sein Dienstherr die Rechte ausstreckte, musste er nicht lange überlegen.

»Ich sag Thilo Bescheid«, fügte Arno Petersen hinzu, als er sich auf seinem Stock in die Höhe stemmte. »Der kümmert sich um den Vertrag. Und sag endlich Arno zu mir.«

An der Hintertür drehte er sich noch einmal um.

»Ist noch zu früh für Schnaps?«

43

In der guten Stube ihres Schwiegervaters sah Katya über die gemeinsame Näharbeit hinweg zu Betje. Arno war schon schlafen gegangen, und Thilo saß in der Küche über den neuen Kalkulationen, die der Brand nötig gemacht hatte. Lange Tage waren es gerade, mit den Renovierungsarbeiten im Kontor, das von den Flammen zwar verschont geblieben war, aber unter Ruß und Rauch, Hitze und Löschwasser schwer gelitten hatte. Ganz Hamburg ging es so, alle mussten sie entweder neu anfangen oder sich die Brandspuren abschütteln.

Eine ganze Nacht war das Mädchen weggeblieben, erst bei Sonnenaufgang hatte es sich in die Wohnung geschlichen, hatte dann ohne eine Rechtfertigung oder Entschuldigung am Frühstückstisch gesessen. Allzu Schlimmes konnte nicht geschehen sein. Verträumt wirkte sie seither, aber strahlend wie der Mond selbst.

Betje spürte Katyas Blick auf sich. Sie wusste, sie schuldete ihr eine Erklärung, sie fand nur den Anfang nicht. Überhaupt keine Worte schien es für die Nacht mit Hanno zu geben, nur die Empfindungen, in denen sie immer noch badete.

Nichts daran war eklig gewesen wie bei Joost, nichts bedrohlich wie bei Zacharias. Vielleicht lag es daran, dass sie jetzt schon fast erwachsen war, oder schlicht an Hanno, weil er eben Hanno war.

So vieles war in der letzten Zeit passiert, das Betje tief unter die Haut ging. Angefangen vom Feuer, das die Stadt ganz und gar zu verzehren drohte, und der Geburt der kleinen Cathrin Petersen. Betje konnte es immer noch fühlen, dieses kleine lebendige und atmende Wesen auf ihrem Arm. Oft ging sie oben bei den anderen Petersens vorbei. Nicht nur um Jette und Marie zu sehen und um Henny, die sich noch von der Entbindung erholte, zu fragen, ob sie etwas brauchte oder sie etwas für sie übernehmen konnte. Sondern auch, um vor der Wiege zu stehen und dem Baby die Wange zu streicheln, die winzigen Finger oder das Bäuchlein. Mit einem nicht enden wollenden Staunen über dieses kleine große Wunder, das jeden Tag ein neues schien.

Es kam ihr nur natürlich vor, dass aus etwas so Wunderbarem, wie sie es mit Hanno erlebt hatte, ein Kind entstehen sollte. Jedes Mal, wenn Betje daran dachte, wurde ihr ganz heiß in der Magengegend.

»Was würdest du sagen«, platzte Betje schließlich heraus, »wenn ich ein Kind bekäme?«

Katya versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Ist denn eines bei dir unterwegs?«

Betjes Gestik pendelte sich irgendwo zwischen einem Kopfschütteln und einem ratlosen Schulterzucken ein.

»Für ein Kind braucht es auch einen Mann«, wandte Katya ein. »Gibt es denn einen?«

Zwei glühende Flecke erschienen auf Betjes Wangen, und sie beugte sich tiefer über das Tischtuch.

Katya lächelte in sich hinein. »Ob mit Mann oder ohne, ich wäre auf jeden Fall da, um das Kind mit dir großzuziehen, wenn du mich brauchst.«

Nachdenklich sog Betje die Unterlippe zwischen die Zähne.

»Würdest du mich deshalb nicht wegschicken?«

»Ich würde dich nie wegschicken, Betje. Aus keinem Grund.«

Betje nickte nur, und obwohl sie den Kopf weiter gesenkt hielt, entdeckte Katya das Aufleuchten in ihren Augen.

Eine Weile war nur das leise Rascheln von Stoff und Faden zu hören. Dann sprach Katya das aus, was sie lange mit sich herumgetragen und nur zuvor ausgiebig mit Thilo besprochen hatte.

»Möchtest du nicht ganz in die Firma einsteigen?«

Betje schwieg.

Geraume Zeit hatte sie geahnt, dass diese Frage einmal kommen würde, vielleicht schon seit sie in Indien mit Katya in den Webereien und Gewürzmanufakturen war. Zeit genug, sich vorzustellen, wie es einmal sein würde, selbst diese Stoffe auszusuchen, im Salon des Kontors mit den Kunden zu verhandeln, an einem eigenen Schreibtisch dort zu sitzen.

Ein ungeheures Geschenk wäre es, das wusste sie wohl. Besonders für ein armes Bauernkind aus Ostfriesland, ein Mädchen noch dazu. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, war ein verführerisches Kribbeln über ihre Haut gewandert, aber es hatte ihr Herz nie erreicht.

»Es bedeutet mir sehr viel, dass du das fragst«, sagte sie schließlich, bemüht, die richtigen Worte zu finden, um Katya nicht zu kränken. »Aber das ist nicht das, was ich will.«

Katya sah sie aufmerksam an. »Was willst du dann?«

Betjes gesunde Schulter hob sich. »Das weiß ich auch noch nicht. Aber das jedenfalls nicht.«

»Warum nicht?«

Betje benötigte einige Herzschläge, um ihre Worte sorgfältig abzuwägen.

»Seit ich bei euch bin, sehe ich, wie viel Leidenschaft und Herzblut ihr in die Firma steckt, du und Thilo, Christian und Grischa. Aber ich sehe auch, wie sehr euch die Arbeit auffrisst. Dass sie euch nicht glücklich macht, keinen von euch. Und das ist etwas, von dem ich weiß, dass ich es unbedingt will. Glücklich sein.«

Katya schluckte. Betjes Worte taten ihr weh. Weil sie die Wahrheit waren. Keiner von ihnen hatte auf Dauer sein Glück gefunden, schon gar nicht in der Firma.

Sie fing Betjes bangen Blick auf und nickte mit einem leisen Lächeln.

»Wenn ich einmal heirate«, setzte Betje nach einer Weile neu an, »darf ich dann deine norwegische Hochzeitstracht tragen?«

Katya sah sie erstaunt an. Wo war das widerborstige und zornige Mädchen hin, das im Armenviertel Lebensmittelspenden zusammenraffte und dann verkaufte, um sich ein paar Groschen zu verdienen? Gerade ein paar Augenblicke schien es her, und nun redete sie schon vom Heiraten.

»Von Herzen gern, Betje. Oder wir nähen dir eine eigene.«

In Betjes Augen flackerte es unsicher. »Woher soll ich wissen, was davon das Richtige für mich ist?«

»Das weißt du, wenn es so weit ist.«

Sie zog Betje an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Mein Mädchen«, flüsterte sie.

Einen Moment lang überließ Katya sich dem schmerzlich süßen Gefühl, dass dieser Jungvogel, der sich gerade erst bei ihr niedergelassen hatte, schon seine Schwingen ausbreitete.

Beunruhigt spähte Hanno durch das Fenster hinaus auf den Kehrwieder, um dann gleich darauf zur Hintertür zu laufen und ins Treppenhaus hinaufzulinsen. Wie er es ständig tat, wenn gerade keine Kundschaft da war.

Seit über einer Woche hatte er Betje nicht mehr gesehen, nicht seit jener Nacht.

Krank war sie nicht, Arno hatte ihn verwundert angeblickt, als er gefragt hatte, ob bei ihnen alles in Ordnung war. An ihre Tür zu klopfen hatte er sich nicht getraut, da sie ihn offenbar nicht mehr sehen wollte. In seiner Verzweiflung hatte er sich sogar quer über das Ruinenfeld ins Gängeviertel aufgemacht, wo er im Holzverschlag Fiete sein Leid klagte. Der hatte nur einen Stoßseufzer von sich gegeben und ihm mitfühlend auf den Rücken geklopft. Jordis’ bedauerndes Zungenschnalzen hatte jedoch nichts Gutes verhießen.

Die Türglocke bimmelte, und mit einem kleinen Fluch spurtete Hanno wieder nach vorn.

Und da stand sie, wunderhübsch ganz in Grün, ein zaghaftes Lächeln auf dem Gesicht, und Hannos Zunge verwandelte sich in ein Stück trockenes Holz.

Schweigend sahen sie einander an und wieder weg, nur um doch gleich wieder mit ihren Blicken zusammenzutreffen.

»Ich hab dich vermisst«, brachte Hanno schließlich heraus.

Betjes Hand fuhr über den Rand der Gemüsekisten. »Ich musste nachdenken.«

Hanno bekam einen Kloß im Hals. »Habe ich etwas falsch gemacht?«

Zu seiner Erleichterung schüttelte sie den Kopf.

»Bereust du’s?«, hakte er heiser nach.

Betje schüttelte wieder den Kopf, energischer dieses Mal, und das Lächeln, das zwischen ihnen aufglomm, hatte etwas Verschwörerisches.