Eingehend sah sie sich um.
»Arno hat erzählt, dass du den Laden übernehmen willst.«
Hanno konnte das Strahlen nicht unterdrücken, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Ist das nicht famos? Thilo Petersen setzt die Verträge auf. Er ist sogar so freundlich, die Vormundschaft zu beantragen, weil ich erst nächstes Jahr einundzwanzig werde.«
Betje hörte ihm zu, wie er begeistert Pläne für den Laden entwarf, mit exotischem Obst und Gemüse und mehr Käsesorten, bis er sich selbst unterbrach.
»Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes sagen.«
Seine Wangen färbten sich, und er nahm seinen ganzen Mut zusammen.
»Bestimmt kommt es viel zu früh, du wirst ja erst achtzehn. Vermutlich müsste ich es auch ganz anders anfangen, mit Blumen und Mondschein und womöglich sogar einem Mietgeiger. Aber ich bin nun mal der ostfriesische Junge mit den Möhren und dem Bohnenkraut und den Kartoffeln da drüben, und der werde ich auch bleiben. Willst du mich vielleicht trotzdem heiraten, Betje?«
Betjes Augen wanderten durch den Laden, in dem sie selbst schon so oft gestanden hatte, dass ihr jeder Winkel im Schlaf vertraut war, jede Kiste, jedes Glas, jede Schütte. Der Duft von Gemüse und Obst, Wurst und Käse und der Politur, mit der sie regelmäßig die Regale und die Toonbank abrieb, vermittelte ihr ein Gefühl, das sie erst hier am Kehrwieder kennengelernt hatte: Geborgenheit.
Zu Hause, das war hier, in diesem Laden.
Etliche Herzschläge lang horchte sie in sich hinein, obwohl sie die Antwort schon längst kannte. Wäre Hanno ihr nicht zuvorgekommen, hätte sie ihn dasselbe gefragt.
»Im Laden kann ich nicht alles machen, das weißt du«, sagte sie. »Aber ich könnte mich um die Buchhaltung kümmern und das Geld verwalten.«
Erleichterung durchströmte Hanno. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.«
Dann erst traf es ihn wie ein Schlag auf den Kopf, noch bevor Betje ihn bei der Hand nahm und sich an ihn schmiegte.
So weit man den Blick auch schweifen ließ, nichts als verkohlte Trümmer und Steinruinen. Jetzt sah man erst, wie groß Hamburg wirklich war. Wie zerstört.
Ausgeweidet wirkte die Stadt, Rathaus, Bank, die alte Börse und das Commercium und über hundert Speicher ausradiert, über eintausend Wohnhäuser abgefackelt. Auch den Schweizer Pavillon gab es nicht mehr, was Henny ein paar sentimentale Tränen in die Augen getrieben hatte. Sie weinte in der letzten Zeit ohnehin viel.
Das Handelsherz Hamburgs schlug kräftig weiter. Man war stolz darauf, dass im Hafen trotzdem Schiffe abgefertigt worden waren, obwohl die Stadt in Flammen stand, erst am Samstag hatte man Cuxhaven signalisieren müssen, dass alle Liegeplätze belegt waren. Keine Stunde während des Feuers war der Zahlungsverkehr unterbrochen gewesen, und schon am Montag hatte die Börse wieder stattgefunden, in einem Logensaal als Notbehelf.
Jetzt galt es, die Ärmel aufzukrempeln und in die Hände zu spucken. Den Schutt zu beseitigen, Behelfsunterkünfte zu errichten, eine Bestandsaufnahme zu machen, Pläne zu schmieden. Ein neues Hamburg zu gestalten, schöner, prächtiger, großzügiger, die Weltstadt, die es immer schon gewesen war.
»Wir bauen ihn wieder auf«, sagte Grischa und bückte sich nach einem Steinchen des Schutthaufens, der vor ein paar Wochen noch ihr neuer Speicher gewesen war.
»Schaffen wir das vor dem Winter?« Katyas Miene drückte Zweifel aus.
Christian trat prüfend auf einen größeren Steinbrocken. »Wir müssen es schaffen. Die Lagerräume, die bisher überall in Hülle und Fülle zur Verfügung standen, existieren praktisch nicht mehr.«
»Das ist utopisch«, widersprach Thilo. »Wir haben schon fast Juni. In einem halben Jahr ziehen wir hier keinen neuen Speicher hoch. Schau dich doch um, alle wollen sie jetzt so schnell wie möglich bauen.«
»Dann begnügen wir uns mit einem Behelfsbau«, schlug Grischa vor. »Eine einfache Bretterkonstruktion, die das Eis einigermaßen schützt. Was meinst du, Katya, würde das was nützen?«
Sie nickte. »Im Zweifel müssen wir das Eis eben so schnell wie möglich verschiffen.«
»Das käme auch unseren Finanzen gelegen«, warf Thilo ein. »Bis das Geld von der Versicherung eintrifft, wird es sicher dauern.«
»Das bekommen wir schon hin«, erwiderte Grischa zuversichtlich. »Christian, kannst du dich trotzdem umschauen, ob wir nicht einen Lagerraum finden, wenigstens vorübergehend?«
»Ich werd’s versuchen.«
Schweigen senkte sich über die Überreste dessen, was noch vor vier Wochen ihre größte Hoffnung gewesen war.
Für ein paar Mark hatten sich genug Männer gefunden, die unmittelbar nach dem Brand den Schutthaufen wegräumten. Unmengen an Eis hatten sie verloren. In der Hitze geschmolzen. Angetaut vom einstürzenden Speicherbau zerschmettert und dann davongeflossen. Von brennendem Torf und Stroh angeschwitzt und dann durch Ruß und Staub verunreinigt, mit Holzsplittern und Steinkrümeln verschmutzt.
Doch genau dieser gewaltige Haufen Schutt und Asche hatte einen harten Kern vor dem Schlimmsten bewahrt. Auf einen brauchbaren Rest zurechtgeschnitten, lagerte dieses Eis bereits an Bord der Aurora . So klar und rein und hart, wie es aus dem See von Uglevatnet gekommen war, würde dieses Eis heute noch seine Reise nach Madras antreten. Mit Glück und guten Winden würde wenigstens dieser Rest ohne großen Verlust sein Ziel erreichen. Nicht einmal ein Drittel jener Fülle, die sie einmal gehabt hatten, aber besser als nichts.
»Wir bauen den Speicher hier wieder auf«, wiederholte Grischa. »Wir kaufen uns noch zwei oder drei Grundstücke dazu und ziehen dort ebenfalls Lager hoch. Wir schaffen uns mindestens noch ein Schiff an und steigen teilweise auf Dampf um, das macht unsere Fahrten auch planbarer. Wir erschließen uns neue Märkte. Lange kann der Krieg in China nicht mehr dauern, und so wie es gerade aussieht, werden die Engländer gewinnen. Die werden sich dort garantiert etliche Türen aufstoßen, und über unseren bisherigen Handel mit London haben wir dann auch schon einen Fuß dort drin. Das holländische Batavia ist reich und heiß, und wenn wir ein Schiff haben, das schnell genug ist, gelingt uns die Lieferung vielleicht sogar bis nach Australien. Wir machen die Firma wieder groß, größer als je zuvor.«
Nicht einmal Thilo widersprach ihm oder erinnerte mahnend an Kosten oder Darlehenszinsen, zu sehr hatten Grischas Worte nach einem Gebet geklungen. Wie eine Prophezeiung.
Sehen konnten sie diese glänzende Zukunft alle vier vor sich. Aber auch den steinigen Weg dorthin, in den kommenden Monaten, den nächsten Jahren.
Abwägend trafen sich ihre Blicke, gewannen an Zuversicht und neuer Energie, das erste Lächeln zuckte auf und steckte die anderen reihum an. Ein Versprechen, das sie einander gaben, für die Zukunft.
Mit einem Händedruck und Schulterklopfen verabschiedete sich Grischa von Christian und Thilo. Katya schloss er fest in die Arme, ihr Ritual, wenn einer von ihnen zu einer längeren Reise aufbrach, bevor er davonstürmte, um das Eis nach Indien zu bringen. Christian hob grüßend die Hand und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, um sich ein Haus vor der Stadt anzusehen, wie Henny es sich schon lange für die Kinder wünschte.
Katya und Thilo blieben zurück. Die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs, stellte Thilo das Bein auf einen Trümmerstein.
»Wann wirst du fahren?«, knüpfte er an das Gespräch an, das sie vor diesem Treffen begonnen hatten.
»Ich weiß es noch nicht genau. Auf jeden Fall erst nach der Hochzeit.«
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Kaum zu glauben, dass wir auch einmal so jung waren.«
Katya nickte. Womöglich hätte sie Betje ins Gewissen reden sollen, noch etwas zu warten, aber das wäre nichts als Heuchelei gewesen. Sie hätte genauso gehandelt, wäre sie noch einmal knapp achtzehn und hätte Christian es geschafft, auf sie zu warten.
Das Schlimmste war ein Vielleicht, das niemals Wirklichkeit wurde. Über alles andere kam man hinweg, früher oder später.