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»Nur hier tut’s manchmal weh.« Sie fasste sich an die linke Schulter. »Wenn ich mich zu sehr anstrenge, den Arm doch irgendwie zu gebrauchen.«

Hanno dachte daran, wie er auf dem Hof mit der Forke den Stall ausgemistet und Wassereimer geschleppt hatte. Wie seine Mutter die Kühe gemolken, Wäsche gewaschen und seine Hemden und Hosen geflickt hatte. Wie die Bäuerin Brotteig knetete und in den Ofen schob und den Eintopf aus klein geschnittenem Gemüse und Kartoffeln auf den Tisch stellte.

Ihm fiel nichts ein, wofür man nicht zwei zupackende Hände gebraucht hätte.

»Das ist ganz schön blöd«, stellte er schließlich fest.

Nüchtern hatte er es gesagt, wenn auch nicht ohne Wärme.

»Weiß ich.«

Es kam weniger spröde heraus, als es sich eben noch auf Betjes Zunge angefühlt hatte.

Die Spur eines Lächelns schimmerte zwischen ihnen auf. Und obwohl ihre Blicke gleich darauf unterschiedliche Richtungen einschlugen, pendelten sich ihre Schritte in einem einträchtigen Gleichmaß nebeneinander ein, auf der Landstraße gen Osten.

Hanno streckte sich im Heu aus, der warme Duft noch behaglicher im Dunkeln. Um Betjes willen hatte er nach einem Gehöft Ausschau gehalten, in dessen Scheune sie die Nacht verbringen konnten, doch auch er war lieber hier als auf dem offenen Feld. Seine Beine waren schwer nach den vielen Meilen dieses Tages, und die Arme nicht minder, nachdem er im Stall mit angepackt hatte, um sich für die Unterkunft und eine Mahlzeit erkenntlich zu zeigen.

So gastlich man ihm hier auf dem Hof begegnet war, so sehr hatte er sich daran gestört, wie die Bauersleute starrten, als Betje auf der Tischplatte die Gabel mit ihrer schlaffen Linken beschwerte, um mit der anderen Hand die aufgespießte Kartoffel abzupellen. Wie sich die Kinder gegenseitig anstießen und tuschelten. Die Vorstellung, dass es Betje womöglich nie anders erging, schmeckte gallenbitter.

Er musste an Tinne denken. Dusseltrine , hatten die Jungen im Dorf sie gerufen, Slaapmütz oder Waterkopp . Manchmal war Hanno dazwischengegangen, wenn sie es allzu toll trieben, und trotzdem hatte eine gewisse Scheu ihn davon abgehalten, sich näher mit Tinne zu befassen. Er wusste nicht einmal, ob sie deshalb immer schrill gekichert hatte, weil sie selbst keine Boshaftigkeit kannte und deshalb die Aufmerksamkeit der Jungen missverstand, oder ob das schlicht ihr Weg war, Hänseleien an sich abprallen zu lassen. Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte mehr getan, als ihr nur jedes Mal einen freundlichen Gruß zuzurufen.

Hanno drehte sich auf die andere Seite. Betje schlief ebenso wenig wie er, das spürte er. Stocksteif lag sie dort drüben im Heu und atmete flach, fast angestrengt.

Bockbeinig wie ein alter Widder war sie vorhin am Tor der Scheune stehen geblieben. Erst als Hanno sich ins Heu gebettet hatte, hatte auch sie sich einen Platz gesucht. Zunächst zögerlich und mit vorsichtigen Bewegungen, dann mit fliegender Hast und möglichst weit von ihm entfernt.

Was auch immer ihr an Üblem widerfahren war, es hatte mit einer Scheune wie dieser zu tun.

»Betje?«

Er konnte hören, wie sie den Atem anhielt, ihre Stacheln aufstellte wie ein Igel.

»Ich weiß nicht, was du alles durchgemacht hast«, flüsterte Hanno. »Aber von mir hast du nichts zu befürchten. Ich bin ein feiner Kerl. Und ich pass auch gut auf dich auf.«

Wie ein Regenguss spülte seine Stimme über sie hinweg. Sagen konnte man viel. Wie man handelte, das war doch das Entscheidende.

Als seine Schwester hatte Hanno sie ausgegeben, was die argwöhnischen Blicke des Bauern und der Bäuerin auf Betjes Arm und die ungekämmten Haare besänftigt hatte, und am Tisch hatte er dicke Scheiben vom Brotlaib abgeschnitten und ihr gebuttert hingelegt. Nebensächliche Gesten, von denen Betje nicht wusste, ob sie freundlich oder herablassend gemeint waren.

Sie zählte bis dreißig, erst dann fühlte sie sich mutig genug.

»Wie kann ich mir da sicher sein?«

Darüber dachte Hanno einige Zeit nach.

»Kannst du nicht«, stellte er schließlich fest. »Ich will trotzdem, dass du es weißt. Und ich werd’s dir zeigen, solange wir zusammen unterwegs sind.«

Obwohl sie sich dagegen sperrte, war sie versucht, seinen Worten Glauben zu schenken. Noch einmal zählte sie bis dreißig.

»Hanno?«

Er gab einen bejahenden Laut von sich.

»Wie weit ist es nach Hamburg?«

»Noch vier oder fünf Tage. Schätze ich.«

Die beiden Schäfer, denen sie an diesem Tag begegnet waren, hatten ebenso wenig von Betjes Updorp und Niendorp gehört wie die Leute im Krämerladen des Dörfchens, durch das sie gekommen waren. Auch der Fuhrwerker, der Säcke mit Korn auf seinem Ochsengespann durch die Gegend karrte, hatte nur den Kopf geschüttelt, und hier auf dem Hof hatte man ebenfalls nur mit den Schultern gezuckt. Hanno dämmerte, dass die beiden Dörfer inzwischen schon weit hinter ihnen liegen mussten, jeder Schritt in Richtung Hamburg Betje noch weiter davon wegtrug. Dennoch blieb er zuversichtlich.

»Auch wenn es gerade nicht danach aussieht … Wir finden schon einen Weg, wie du wieder nach Hause kommst.«

Betjes Schweigen war drückend. Hanno hob den Kopf und blickte zu ihr hinüber, als könnte er im Dunkeln sehen, was sich auf ihrem Gesicht abzeichnete.

»Willst du denn nicht mehr nach Hause?«

Seine Frage hallte in Betje nach, während ihre Augen durch die Finsternis wanderten.

Zu Hause würde nichts Gutes sie erwarten. Das hatte sich für sie herausgeschält wie das Innere einer Zwiebel, während sie an diesem Tag neben Hanno über die Landstraßen gewandert war, zwischen Weiden und Feldern hindurch. Als ob sich ihr Blick auf ihr Zuhause schärfte, mit jedem Schritt, den sie sich davon entfernte.

Der Onkel würde nicht aufatmen, die Tante sich keine Träne aus dem Augenwinkel wischen und die Kinder nicht vor Freude in die Luft springen, nur weil Betje wieder da war. Höchstens Schimpfe würde es geben, weil sie sich so lange herumgetrieben und allen Sorgen bereitet hatte. Und danach wäre alles wieder wie zuvor, sogar schlimmer noch, zur Strafe und als Mahnung, nie wieder davonzulaufen.

Vielleicht lag es an Hanno, dass es so viel leichter schien, weiter ins Unbekannte hinauszumarschieren. Wenn er sein Leben in die eigenen Hände nahm, konnte sie das genauso gut, auch mit einem lahmen Arm.

»Ich will auf ein Schiff, das nach Amerika fährt.«

Hanno blieb die Spucke weg. Nach Hamburg war es schon weit, aber Amerika schien so fern zu sein wie der Mond. Entweder wusste Betje nicht, wovon sie redete, oder sie war ein besonders tollkühnes Mädchen.

»Was willst du in Amerika?«

Bork Diedrichsen, einer der Torfstecher aus der Nachbarschaft, hatte im vergangenen Jahr seine Siebensachen für Amerika gepackt, gleichermaßen für seinen Wagemut beneidet wie für diesen irrwitzigen Plan bespöttelt. Hanno war unschlüssig geblieben, was er davon halten sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, was es in Amerika geben könnte, das man nicht auch in hiesigen Landstrichen fand. Sicherlich konnte man es überall zu etwas bringen, wenn man nicht ganz auf den Kopf gefallen war und sich nicht scheute, kräftig anzupacken.

Das Heu raschelte, als Betje sich regte. Ihre Stimme war jetzt leiser als zuvor, und doch klang sie näher.

»Ich will meine Mutter finden. Und meinen Vater. Meine Geschwister sind auch dort.«

Selbst wenn Hanno weniger fix im Denken gewesen wäre, hätte er eins und eins zusammenzählen können. Was waren das für Menschen, die auf der anderen Seite der Welt ein besseres Leben suchten und alle Kinder mitnahmen bis auf eines, lahmer Arm hin oder her?

Eine merkwürdige Art von Zorn stieg in ihm auf. Brennend und bissig, doch darunter verbarg sich etwas Zartes, Daunenweiches. Wie ein Ganter, der fauchend die frisch geschlüpften Küken unter seinen ausgebreiteten Flügeln im Nest beschützt.

Hanno dachte an Fraukes Briefe in seinem Tornister. Sie hatte nicht oft geschrieben und immer nur kurz, bei ihrer Herrschaft gab es viel zu tun. Dass es in Hamburg überhaupt mehr und bessere Arbeit gab als zu Hause im Moormerland, in der Stadt genauso wie im Hafen. Nach einem Versprechen hatte es geklungen, geradewegs an Hanno gerichtet.