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Katyas und Thilos Blicke wichen einander aus und fanden doch immer wieder zusammen.

Es tat gut, erneut unter einem Dach zu wohnen, im selben Bett zu schlafen. Sich Arm in Arm aneinanderzuschmiegen. Für mehr fehlte ihnen noch der Mut, vielleicht war auch die Lust zwischen ihnen endgültig gestorben; im Augenblick vermissten sie jedenfalls nichts.

Thilo sah über das ausgebrannte Herz der Stadt.

Die vier Eisbarone hatten mehr verloren als kostbares Eis, mehr als den teuren und noch nicht einmal abbezahlten Speicher, das Feuer hatte es nur sichtbar gemacht.

Auseinandergetrieben waren sie, vor langer Zeit schon, in den Stürmen, die sie selbst heraufbeschworen hatten. Alles, was sie noch zusammenhielt, war der Traum vom Eis.

Es verging kein Tag, an dem Thilo nicht an Zacharias dachte, voller Reue und mit einem selbstquälerischen Sehnen. In einer Trauer, die er mit niemandem teilen konnte. Manchmal glaubte er, ihn auf der Straße zu entdecken, in einem Paar dunkler Augen, einem scharf ausgeprägten Wangenknochen, einem Lachen, das ihm das Blut ins Gesicht schießen und in den Unterleib sacken ließ. Eine Schwäche, für die er sich selbst verachtete und die er insgeheim doch genoss. Mit einem Gefühl der Schuld, das bleiern auf ihm lastete.

Als ob Zacharias sich über kurz oder lang aus seinem nassen Grab nach ihm recken würde, so kam es ihm oft vor, um ihn mit sich in die Tiefe zu reißen.

Sein Blick kam auf Katya zu liegen. Sie war der rettende Anker, der ihn vor dem Ertrinken bewahrte, und wusste es nicht einmal. Eine unerträglich schwere Bürde, selbst wenn man sich vor Gott und den Menschen das Eheversprechen gegeben hatte. Sie verdiente es, sich davon freizuschwimmen, und doch graute ihm davor, sie gehen zu lassen.

»Wie lange wirst du fortbleiben?«, fragte Thilo leise.

Katya lächelte und küsste ihn auf die Wange. Die einzige Antwort, die sie ihm geben konnte.

44

Eine Hochzeit bedeutete immer Glück und Segen, Hoffnung und Zuversicht. Aber wohl noch nie so sehr wie in diesem Jahr, in dem sich die Inseln des Grasbrooks sogar im Feuer als sicherer Hafen erwiesen hatten. Noch dazu eine Hochzeit in Sankt Katharinen, durch den heldenhaften Mut der Spritzenleute vom Funkenflug bewahrt, ihr Backsteinbug in der Septembersonne leuchtend wie eh und je, das Turmgold aus Störtebekers Schatz am blauen Himmel umso glänzender.

Natürlich wollte man dabei sein, wenn sich die Mündel von Katya und Thilo Petersen das Jawort gaben, auch um zu sehen, wie es jetzt wohl zwischen den Eheleuten Petersen stand. Vor allem aber versammelte man sich vor der Kirche, um dabei zu sein, wenn sich Betje Hermanns und Hanno Reintjes das Jawort gaben. Niemandem wünschte man mehr Glück auf dieser Welt als diesen beiden jungen Leuten, die im Gemischtwarenladen die Gemüsekisten und die Kasse übernommen hatten. Viel zu jung eigentlich für ein Geschäft und zum Heiraten, sie zarte achtzehn, er noch nicht ganz einundzwanzig. Aber wer derart freundlich und tüchtig im Laden zupackte, der konnte sicher auch in einer Ehe nicht viel falsch machen. Und wer wollte nicht noch einmal so jung sein, so verliebt!

Vom Stimmengewirr und dem vorfreudigen Lachen der Menschen draußen drang nichts in das Innere der Kirche, mit Sonnenblumen und Margeriten aus dem Alten Land geschmückt. Selbst Orgelchoral und Glockenläuten kamen kaum gegen die schrillen Babyschreie an, die das Trommelfell der geladenen Gäste malträtierten.

Katya zögerte nicht lange. In ihrer norwegischen Festtagstracht ging sie auf die Kirchenbank zu, in der Christian vergeblich seine jüngste Tochter Cathrin auf dem Arm schaukelte, um sie zu beruhigen. Auch die Versuche von Großvater Arno, seine Enkelin mit einer Rassel und kleinen Späßen abzulenken, blieben ohne Erfolg.

»Henny hat wieder Migräne«, entschuldigte sich Christian, genauso hochrot im Gesicht wie die Kleine. »Und die Kinderfrau hat ausgerechnet heute auf ihrem freien Tag bestanden. Ich wusste nicht, was ich sonst machen soll. Ich wollte doch unbedingt dabei sein. Wegen Betje, aber auch wegen Marie, für alle Fälle.«

Katya nickte. Seit Henny und Christian ins Grüne gezogen waren, sahen sie sich außerhalb der Firma nur noch wenig, und trotzdem wurde sie den Eindruck nicht los, dass gerade Henny mit dem Familienzuwachs überfordert war.

»Willst du sie mir geben?«, fragte sie.

Sichtlich erleichtert reichte er ihr das kreischende und mit aller Kraft seiner knapp fünf Monate zappelnde Kind. Zärtlich küsste Katya die Tränen von den weichen Wangen und murmelte sanft auf Russisch, während sie den Rücken des Babys rieb. Ein paarmal schlug die kleine Cathrin noch mit den Fäusten, gab grelle Laute und heftig ruckende Schluchzer von sich, dann ließ sie erschöpft den Kopf an Katyas Schulter sinken und begann, am Stoff des Blusenärmels zu nuckeln.

»Ihr zwei«, knurrte Christian gutmütig.

Katya hob nur zustimmend die Brauen, der Blick, der zwischen ihr und Christian hin und her ging, abwechselnd spöttisch und mitfühlend, demutsvoll und unversöhnlich. Cathrins warmes Gewicht auf ihrem Arm und ihren süßen Babyduft einatmend, kehrte Katya auf ihren Platz in der vordersten Kirchenbank zurück, wo Elli ihrem Sohn die Bibelszenen der bunten Glasfenster erklärte. Die beiden Frauen tauschten ein kleines Lächeln, als Tristan in seinem Kinderanzug mit der Ungeduld eines Zehnjährigen zum wiederholten Mal fragte, wann es denn endlich losginge. Als gleich darauf ein entzücktes Raunen durch die Kirche wogte und seine Mutter ihn anstupste, drehte der Junge sich strahlend um.

In aller Ernsthaftigkeit ihrer fünf Jahre ging Aurora durch die Kirche und verstreute aus ihrem Körbchen Mageritenblüten. Hinreißend sah sie aus in ihrer kleinen Tracht, Blumen und Schleifen in den dunklen Locken. Es zog Katya das Herz zusammen, dass Grischa diesen Anblick versäumte. Großzügig, wie er war, würde er es ihnen jedoch verzeihen; mehr als jeder andere würde er verstehen, dass Hanno und Betje nicht noch ein halbes Jahr hatten warten wollen, bis er aus Indien zurück war.

Fast noch mehr versammelte Marie die Blicke auf sich, eine achtjährige Elfe mit goldglänzendem Haar und meerblauen Augen, die anmutig durch die Kirche schwebte und auf weltentrückte Art Blüten auf den Boden regnen ließ. In Katyas Brust zuckte es kurz halb schmerzlich, halb gerührt auf, als sie sah, wie Christian sich an die Augenwinkel fasste; ein solch großer Schritt für sein Muschelkind war es, sich unter so viele Menschen zu begeben, und Henny war nicht da, um diesen Augenblick zu teilen.

Jordis und Jette folgten als Brautjungfern, dann war Betje an der Reihe, und für einen viel zu langen Augenblick zitterten ihre Knie. Thilo fasste ihre Linke fester, die auf seinem rechten Arm lag, und nickte fragend.

Thilo, der Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, damit sie heute hier heiraten konnte. Nachdem zuerst in Ostfriesland einige Dokumente nicht aufzufinden gewesen waren, hatten sich dann Onkel und Tante dagegen gesperrt, ihre verloren geglaubte und so gut wie vergessene Nichte einfach aufzugeben. Es war wohl auch um Geld gegangen, mehr hatte Thilo nicht gesagt, mehr hatte Betje auch nicht wissen wollen, aber schließlich war Katya doch noch zum Vormund bestimmt worden und hatte ihr Einverständnis zur Heirat geben können.

Betje atmete tief durch, erwiderte Thilos Nicken und schritt dann an seinem Arm durch das Kirchenschiff. In den Gesichtern der Nachbarn und Stammkunden konnte sie lesen, was ihr heute Morgen schon ihr Spiegelbild verraten hatte. Nie hatte sie schöner, nie glücklicher ausgesehen, in ihrer eigenen norwegischen Tracht in Schwarz, Weiß und Grün, Margeriten in den aufgesteckten Locken.

Aber noch mehr bedeutete ihr das Lächeln von Christian Petersen und wie Arno sich verstohlen über die Augen wischte. Der Glanz in Katyas Augen und wie Fiete Hannos Schulter drückte, bevor er zur Seite trat, beide in ihren Anzügen ganz erwachsen und feierlich. Doch nichts, nichts bedeutete ihr mehr als Hannos Blick, als er ihre Linke von Thilo entgegennahm und auf seinen eigenen rechten Arm legte. Spiegelverkehrt standen sie vor dem Altar, ein Bruch mit aller Tradition, und das aus gutem Grund.