In Hamburg, so schien es, war alles möglich.
»Wir bitten meine Schwester um Hilfe, wenn wir dort sind. Frauke weiß bestimmt was oder kennt jemanden, der dir helfen kann. Wir finden ein Schiff, das dich nach Amerika bringt.«
Hanno hatte nicht gewusst, dass man ein Lächeln hören konnte. Wie sehr es die Dunkelheit erhellte.
6
Mit jeder Meile, die Betje und Hanno zurücklegten, milderte sich die eintönige Strenge der Landschaft. Rapsfelder leuchteten weithin wie frisch aus der Sonne geschnittene Bahnen, sogar noch im Regen. Wie die Blättchen eines Keimlings entrollten sich sanfte Auen, verzweigten sich kleine Flussläufe, an denen Rehe ästen und Karnickel davonhoppelten.
Die Wälder, durch die ihr Weg sie führte, waren nicht dunkel und unheimlich, wie Betje geglaubt hatte, sondern hellgrün und licht, durchflutet von Vogelstimmen und dem Wispern der Blätter. Unter ihren Füßen sammelten sich Sonnenpfützen auf dem schattigen Boden, und Eichkätzchen äugten neugierig um Baumstämme herum.
Die Rufe von Bussard und Milan über dem offenen Land waren wie eine Verheißung dessen, was vor ihnen lag, für Hanno in Hamburg, für Betje auf der anderen Seite der Welt. Im Takt ihrer Schritte fragten sie sich gegenseitig, wie es wohl war, mit einem Schiff über das Meer zu reisen, das keiner von beiden je gesehen hatte. Gemeinsam überlegten sie, ob es in Amerika kälter oder wärmer war, auch grün und windig oder trocken und staubig. Ob die Kühe und Schafe dort genauso aussehen mochten, darin waren sie sich uneins, und lange stritten sie darüber, ob die Hühner auf der anderen Seite des Ozeans weiße oder braune oder sogar gesprenkelte Eier legten.
Wenn es regnete, hielt Hanno seine Jacke über sie beide ausgebreitet, bis sie einen Baum zum Unterstellen fanden, und während sie darauf warteten, dass die Wolken sich erschöpften, ergrünte die Welt vor ihren Augen noch satter.
Einmal, als sie unter einem solchen Baum standen, flackerte es für den Bruchteil eines Augenblicks am nassen und finsteren Himmel. Betje zählte ihre Herzschläge.
»Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn«, murmelte sie in das einsetzende Grummeln hinein. »Noch ein gutes Stück weg.«
Hanno horchte dem verhallenden Rumpeln nach. Sicher gab es nicht viele Mädchen, die draußen bei einem aufziehenden Gewitter derart ruhig blieben, ohne aufzuquieken oder auch nur zusammenzuzucken. Die die Zeitspanne zwischen Blitz und Donner abzählten, um nüchtern die Entfernung zu schätzen.
»Solange es nicht näher kommt, können wir getrost hier stehen bleiben«, bekräftigte er.
Blitz und Donner rückten jedoch nicht zu ihnen auf, sondern schlichen sich wieder davon, und im Schutz des Laubdachs bestaunten Hanno und Betje den Regenbogen, der sich von einem Ende des Horizonts zum anderen spannte.
»Immer, wenn ich einen Regenbogen sehe«, sagte Hanno, »muss ich daran denken, dass es ihn ohne Wolken und Regen gar nicht gäbe.«
»Alles hat seinen Preis«, erwiderte Betje, einen beißenden Geschmack auf der Zunge.
Hanno sah zu ihr, erstaunt über diese unkindliche Bitterkeit. Ohne dass er es benennen oder gar greifen konnte, glaubte er, in diesem Moment etwas Wesentliches über Betje begriffen zu haben.
»Ich würde eher sagen, alles hat sein Gutes«, widersprach er heiter.
Jetzt war es Betje, die ihn überrascht musterte, auf diese Weise hatte sie es noch nie betrachtet. Ein Gedanke, der sie beschäftigt hielt und neue Gedanken nach sich zog, auf ihrem weiteren Weg über die regenfeuchte und nur langsam trocknende Landstraße.
Im Gegensatz zu ihr war für Hanno die Milchkanne offenbar immer halb voll. Seinen Wissensschatz über Hamburg teilte er genauso mit ihr wie das Brot und den Speck, den Käse und die Äpfel aus seinem Tornister. Pfiff der Wind allzu kräftig, lieh er ihr seine Jacke und begnügte sich damit, sich ein zweites Hemd aus festerem Stoff überzuziehen. Nichts davon fühlte sich wie ein Almosen an, noch nicht einmal wie ein großzügiges Geschenk, das nach einer Gegenleistung verlangte. Als wäre alles, was Hanno besaß, ganz selbstverständlich auch Betjes Eigentum.
Sein treuherziges Selbstbewusstsein öffnete ihnen fast immer die Tür, wenn er bei einem Bauern nach einer Mahlzeit und einem Nachtlager fragte, und jedes Mal fand Hanno Gelegenheit, sich auf dem Hof nützlich zu machen. Aus der Freundlichkeit, mit der Hanno durch die Welt ging, schöpfte Betje den Mut, sich ihrerseits ungefragt neben der Altbäuerin ins Beet zu knien und mit ihr Unkraut zu jäten. Im Topf zu rühren, damit der Eintopf nicht anbrannte, während die Jungbäuerin ihrem greinenden Neugeborenen die Brust gab, oder Mehl nachzuschütten, wenn die Hofherrin mit beiden Händen den klebrigen Brotteig knetete.
Hanno litt mit ihr unter den Blicken der Bauersleute. Wie sich die Anstrengung auf ihrem Gesicht abzeichnete, nur ja nichts falsch zu machen. Ungerecht kam es ihm vor, dass Betje mit einem lahmen Arm in eine Welt hineingeboren worden war, in der es schon schwer genug war, mit beider Hände Arbeit sein karges Brot zu verdienen. Eine Art von Ungerechtigkeit, die sich niemals würde heilen lassen, vielleicht noch nicht einmal ein wenig ausgleichen ließe.
Dabei war Betje ein famoses Mädchen, ging es Hanno oft durch den Kopf. Tapfer hielt sie mit ihm Schritt, egal, wie weit sie auch den Tag über marschierten. Nie jammerte sie, zierte sich oder gab sich weinerlich, wie er es von den Mädchen zu Hause kannte. Die Kratzbürstigkeit, mit der sie ihm manchmal über den Mund fuhr, und die Sturheit, mit der sie gelegentlich schwieg, schienen mehr einem harten Leben als einer Laune geschuldet zu sein. Nur wenn sie ihn mit geröteten Wangen aufforderte, ja nicht zu kieken, bevor sie hinter einem Busch verschwand, war sie so sehr ein Mädchen wie alle anderen auch, dass Hanno in sich hineingrinste.
Es hätte ihm nichts ausgemacht, allein nach Hamburg zu wandern. Aber mit Betje zusammen war es schöner. Seine Gedanken nicht stumm wiederzukäuen, sondern im Zwiegespräch weiterzuspinnen, Betjes Augen dabei aufglimmend wie die Irrlichter zu Hause im nächtlichen Moor.
Wann immer sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete, gerieten ihre Sommersprossen in Bewegung wie aufstiebende Funken; Hanno hätte einiges dafür gegeben, sie einmal herzhaft lachen zu sehen. Fortwährend zermarterte er sich den Kopf nach etwas Lustigem, das er tun oder erzählen könnte, während das pfeifende Surren von Schwanenschwingen über sie beide hinwegzog oder auf der Wiese Störche mit ihren Schnäbeln klapperten.
Als dann tatsächlich ein Lachen aus Betje hervorbrach, geschah es ohne Hannos Zutun. Die blühenden Obstbäume waren es, ganze Felder davon, die eine solche Freude auf Betjes Gesicht entzündeten, dass es auch in Hanno glücklich aufzuckte.
Unter den Blütenwolken, von Bienen und Hummeln durchschwärmt, glaubte Betje sich dem Paradies, von dem der Pastor in seiner Sonntagspredigt oft gesprochen hatte, so nahe, wie es auf dieser Erde nur ging. Nach Hamburg konnte es jetzt nicht mehr weit sein, und mit neuem Schwung trugen ihre Beine sie vorwärts.
Die Stadt überstieg alles, was sie sich in den sieben Tagen, die sie mit Hanno durch Wälder und Wiesen gewandert war, ausgemalt hatte. Betje bekam den Mund nicht mehr zu.
Dicht an dicht standen die Häuser, höher als der Kirchturm zu Hause, durchzogen von Kanälen, breit und tief genug, dass Boote darauf fahren konnten. Wie ein Flusslauf nach tagelangem Pladderregen quollen die Straßen über vor Geschäftigkeit. In ihrem ganzen Leben hatte Betje noch nie so viele Menschen gesehen, mehr, als sie zählen konnte. Ein rastloser Wind brachte ständig neue Gerüche mit sich, je nachdem, aus welcher Richtung er kam, und in den Segeln der Schiffe hing eine solche Ahnung von Fremde und Meer, dass sich Betjes Brust sehnsüchtig weitete.
Eine ganz neue Welt tat sich hier vor ihr auf, auf dem Wasser schwimmend und sich nach den Wolken reckend. Eine weitläufige Landschaft aus Stein und Holz, in der die Leute auf ihre eigene Art pflügten und säten und ernteten.