Das Buch
Harry stand vor dem orange-weißen Absperrband, als vor ihm ein Fenster im Hochparterre des Hauses aufging.
Katrine Bratt streckte den Kopf heraus.
»Lassen Sie ihn rein«, rief sie dem jungen Beamten zu, der ihm den Weg versperrte.
»Er kann sich nicht ausweisen«, protestierte der Polizist.
»Das ist Harry Hole«, rief Katrine.
»Wirklich?« Der Mann musterte Harry von Kopf bis Fuß, bevor er das Absperrband anhob. »Ich dachte, Sie wären bloß eine Legende«, sagte er.
Kommissar Harry Hole unterrichtet an der Polizeihochschule Oslo, seine Vorlesungen und Seminare sind überfüllt, denn seine Ermittlungserfolge waren spektakulär. Der Spezialist für Serienmorde hat die größten Kriminalfälle Norwegens gelöst und eine Verschwörung innerhalb der norwegischen Polizei aufgedeckt. Obwohl er inzwischen ein ganz anderes Leben führt, kann er sich dem Sog des Vampiristen-Falls nicht entziehen, der in Oslo die Schlagzeilen bestimmt. Harry Hole ist wieder im Spiel.
Der Autor
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Die Hollywood-Verfilmung seines Romans Schneemann wird von Martin Scorsese produziert.
Jo Nesbø lebt in Oslo.
www.nesbo.de
www.jonesbo.com
Übersetzt von Günther Frauenlob, Jahrgang 1965. Er arbeitet seit über 20 Jahren als literarischer Übersetzer für Norwegisch und Dänisch. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen u. a. Lars Mytting und Gard Sveen. Er lebt in Waldkirch in der Nähe von Freiburg.
JO NESBØ
DURST
KRIMINALROMAN
Aus dem Norwegischen
von Günther Frauenlob
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2017
unter dem Titel Tørst
bei Aschehoug, Oslo.
ISBN 978-3-8437-1482-2
© 2017 by Jo Nesbø
© der deutschsprachigen Ausgabe
2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © Michael Trevillion / Trevillion Images, FinePic®, München
Autorenfoto: © Niklas R. Lello
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Prolog
Er starrte in das weiße Nichts.
Wie er es seit bald drei Jahren tat.
Er sah niemanden, und niemand sah ihn. Abgesehen von den kurzen Augenblicken, in denen die Tür aufging und so viel Dampf entwich, dass er hin und wieder einen nackten Mann erkennen konnte, bevor die Tür sich wieder schloss und alles erneut in Nebel versank.
Das Bad würde bald schließen. Er war allein.
Er schlug das weiße Handtuch enger um die Brust, stand von der Holzbank auf, verließ den Raum, zog den Bademantel über und ging an dem leeren Becken vorbei in die Umkleide.
Keine plätschernde Dusche, keine türkischen Floskeln, keine nackten Füße auf den Fliesen. Er betrachtete sich im Spiegel. Berührte mit dem Finger die Narbe der letzten Operation. Er hatte eine Weile gebraucht, sich an das neue Gesicht zu gewöhnen. Seine Finger fuhren am Hals entlang und über die Brust, verharrten dort, wo das Tattoo anfing.
Er öffnete das Schloss am Umkleideschrank, zog sich die Hose an und schlüpfte in seinen Mantel, ohne vorher den noch feuchten Bademantel auszuziehen. Band sich die Schuhe. Er versicherte sich noch einmal, dass er allein war, und trat an den Umkleideschrank mit dem blauen Punkt auf dem Vorhängeschloss. Stellte die Nummer 0999 ein, nahm das Schloss ab und öffnete den Schrank. Einen Moment lang betrachtete er den großen, schönen Revolver, der darin lag. Dann legte er die Finger um den rotbraunen Schaft und steckte die Waffe in die Jackentasche. Er nahm den Umschlag und öffnete ihn. Ein Schlüssel, eine Adresse und ein paar weitere Informationen.
Und noch etwas lag im Schrank.
Etwas Schwarzes, aus Eisen.
Er hielt es ins Licht und bewunderte fasziniert die schmiedeeiserne Arbeit.
Er würde es gründlich reinigen müssen, bürsten, und spürte die Erregung, es endlich benutzen zu dürfen.
Drei Jahre. Drei Jahre in diesem weißen Nichts, dieser Leere einförmiger Tage.
Es war höchste Zeit, wieder vom Leben zu kosten.
An der Zeit, zurückzukehren.
Harry schrak aus dem Schlaf. Er starrte ins Halbdunkel des Zimmers. Da war er wieder, dieser Mann, er war zurück, er war hier.
»Wieder ein Alptraum, Liebster?« Die flüsternde Stimme neben ihm war ruhig und warm.
Er drehte sich zu ihr. Ihre braunen Augen musterten ihn. Und die Erscheinung verblasste und verschwand.
»Ich bin hier«, sagte Rakel.
»Und ich bin hier«, sagte er.
»Wer war es dieses Mal?«
»Niemand«, log er und legte seine Hand auf ihre. »Schlaf wieder ein.«
Harry schloss die Lider. Wartete, bis er sich sicher war, dass auch sie die Augen wieder geschlossen hatte, bevor er seine aufschlug und ihr Gesicht betrachtete. Dieses Mal hatte er ihn in einem Wald gesehen. Ein Moor mit weißen Nebelfetzen. Er hatte die Hand gehoben und etwas auf Harry gerichtet. Der tätowierte Dämon auf seiner nackten Brust war deutlich zu erkennen gewesen, bis der Nebel dichter geworden war und ihn verschluckt hatte. Wieder einmal.
»Ich bin hier«, flüsterte Harry Hole.
Teil I
Kapitel 1
Mittwochabend
Die Jealousy Bar war beinahe leer, und doch war die Luft drinnen zum Schneiden.
Mehmet Kalak beobachtete den Mann und die Frau, die am Tresen saßen, während er ihnen Wein einschenkte. Vier Gäste insgesamt. Der dritte saß allein an einem Tisch und trank winzige Schlucke von seinem Bier, und vom vierten sah er nur die Spitzen der Cowboystiefel, die aus einer der seitlichen Nischen des Lokals ragten. In dem schwachen Lichtschein über dem Tisch leuchtete hin und wieder ein Handydisplay auf. Vier Gäste, und das im September, abends um halb zwölf in der besten Kneipengegend Grünerløkkas. So durfte das nicht weitergehen. Manchmal fragte er sich ernsthaft, was ihn geritten hatte, seinen Job als Barchef in einem der angesagtesten Hotels der Stadt aufzugeben, um dieses heruntergekommene Lokal mit seiner versoffenen Klientel zu übernehmen. Hatte er wirklich geglaubt, er müsse nur die Preise anheben, um die alten Gäste durch bessere Kundschaft ersetzen zu können? Mittdreißiger aus dem Viertel mit viel Geld und wenig Problemen. Oder hatte er nach der Trennung einfach einen Ort gesucht, an dem er sich zu Tode arbeiten konnte? Vielleicht war der ausschlaggebende Punkt am Ende einfach das verlockende Angebot des Kredithais Danial Banks gewesen, nachdem bereits alle Banken abgewunken hatten. Oder die Tatsache, dass er in der Jealousy Bar ganz allein über die Musik bestimmen konnte und nicht irgendein bescheuerter Hotelchef, für den nur das Klingeln der Kasse Musik war. Zumindest war es ihm gelungen, die alten Stammgäste loszuwerden, sie hatten Zuflucht in einer billigen Kneipe drei Straßen weiter gefunden. Vielleicht musste er, um an neue Gäste zu kommen, sein Konzept noch einmal überdenken. Möglicherweise reichte ein Fernseher mit dem türkischen Fußballkanal nicht, um sich Sportsbar nennen zu können. Und was die Musik anging, musste er vielleicht mehr auf Mainstream setzen, U2 und Springsteen für die Männer und Coldplay für die Frauen.