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»Die Menschen ertragen keine Zweifel«, hatte Steffens gesagt. »Sie klammern sich daran, dass solche wie Sie und ich immer ganz genau Bescheid wissen. Dass der Angeklagte schuldig und die Diagnose richtig ist. Wenn wir sagen, dass wir Zweifel haben, gilt das als Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit und nicht als Beweis für die Komplexität der Fragestellung oder die Grenzen des Fachs. Die Wahrheit ist aber, dass wir nie wissen werden, was Rakel gefehlt hat. Es gab eine gewisse Häufung von Mastzellen, weshalb ich erst an Mastozytose gedacht habe, an sich schon eine seltene Blutkrankheit. Aber das können wir mittlerweile ausschließen, so dass wir jetzt von einer Vergiftung ausgehen. Sollte dem so sein, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass sich das alles wiederholen wird. Vermutlich genau wie bei dieser Mordserie, nicht wahr?«

»Nur dass wir wissen, wer diese Frauen umgebracht hat.«

»Stimmt. Schlechte Analogie.«

Je länger die Entlassung aus dem Krankenhaus zurücklag, desto mehr Zeit verstrich auch zwischen den Gedanken, die dar­um kreisten, dass Rakel einen Rückfall erleiden könnte.

Oder dass der Vampirist wieder zugeschlagen hatte, wenn das Telefon klingelte.

Ein Angst-Aufwachen war es also auch nicht.

Nach Valentin Gjertsens Tod war es noch ein paarmal vorgekommen. Erstaunlicherweise nicht während der Vernehmungen durch die internen Ermittler, bei denen recht schnell klargeworden war, dass Harry nicht dafür angeklagt werden konnte, dass er in dieser unübersichtlichen Situation auf einen gefährlichen Mörder geschossen hatte, der noch dazu diese Reaktion provoziert hatte. Erst danach hatten Valentin und Marte Ruud begonnen, ihn in seinen Träumen heimzusuchen. Und nicht er, sondern sie hatte ihm dabei ins Ohr geflüstert. Und deshalb bist auch du über­listet worden.

Immer wieder hatte er sich selbst zu überzeugen versucht, dass er nicht mehr in der Verantwortung stand, sie zu finden. Und nachdem aus den Wochen Monate geworden waren, waren auch ihre Besuche seltener geworden. Der alltägliche Rhythmus zu Hause und an der Polizeihochschule hatte ihm geholfen, und natürlich die Tatsache, dass er keinen Alkohol mehr angerührt hatte.

Er war jetzt endlich dort, wo er sein wollte. Denn es war die fünfte Art. Das Zufriedenheits-Aufwachen. Ein weiterer Tag, der wie die Kopie des vorangegangenen werden würde. Mit exakt dosiertem Serotonin-Level.

Harry schlich sich so leise wie möglich aus dem Bett, zog sich eine Hose an, ging nach unten, legte Rakels Lieblingskapsel in die Espressomaschine, schaltete sie ein und trat nach draußen auf die Treppe. Der Schnee brannte angenehm unter seinen Fußsohlen, während er die Winterluft einsog. Die in Weiß gekleidete Stadt lag noch im Dunkel, aber im Osten errötete schüchtern ein neuer Tag.

Er zog Schuhe und Daunenjacke an und stakste durch den Schnee zum Briefkasten.

Die Aftenposten titelte, dass die Zukunft rosiger sei, als die täglichen Nachrichten dies erwarten ließen. Und dass, obwohl Mord, Krieg und Grausamkeiten medial immer präsent waren, ein gerade veröffentlichter wissenschaftlicher Bericht zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Anteil der Menschen, die von anderen getötet wurden, einen historischen Tiefpunkt erreicht hatte, Tendenz weiterhin sinkend. Ja, dass Mord eines Tages vielleicht ausgerottet sein würde. Mikael Bellman, der laut Aftenposten in der kommenden Woche offiziell als Justizminister vereidigt werden sollte, hatte gesagt, dass es sicher nicht falsch sei, sich hohe Ziele zu setzen, dass sein persönliches Ziel aber nicht die perfekte Gesellschaft, sondern eine bessere Gesellschaft war. Harry musste lächeln. Isabelle Skøyen war eine gute Souffleuse. Harrys Blick sprang noch einmal nach oben zu dem Satz, dass Mord ­eines Tages ausgerottet sein könnte. Warum erzeugte diese gewagte Behauptung wieder die Unruhe, die er – seiner Zufriedenheit zum Trotz – schon den ganzen letzten Monat gespürt hatte, vielleicht sogar länger? Mord. Er hatte es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Mörder zu bekämpfen. Aber was, wenn ihm dies gelang? Was, wenn alle erledigt waren? Wäre dann nicht auch er, Harry, erledigt? Und hatte er nicht ein kleines bisschen von sich mit Valentin begraben? Hatte er sich deshalb an einem der letzten Tage plötzlich an Valentin Gjertsens Grab wiedergefunden? Oder gab es dafür andere Gründe? Steffens’ Äußerung über unsere Unfähigkeit, Zweifel zu ertragen? Nagten die fehlenden Antworten an ihm? Verdammt, Rakel war gesund, Valentin weg – es war an der Zeit loszulassen.

Der Schnee knirschte.

»Winterferien gut verlebt, Harry?«

»Wir haben überlebt, Frau Syvertsen. Noch nicht genug vom Skilaufen?«

»Gute Bedingungen sind gute Bedingungen«, sagte sie, das Gewicht auf das Standbein verlagernd. Ihr Skianzug saß wie ­angegossen. Sie hielt ihre sicher heliumleichten Langlaufski in der Hand, als wären es Essstäbchen.

»Sie haben nicht Lust auf eine schnelle Tour, Harry? Die anderen schlafen noch, wir könnten zum Tryvann hochsprinten.« Sie lächelte, das Licht der Laterne fiel auf ihre Lippen, auf denen irgendeine Creme gegen die Kälte glänzte. »Die Bedingungen sind wirklich … gut. Ein Dahingleiten.«

»Ich habe keine Ski«, erwiderte Harry mit einem Lächeln.

Sie lachte. »Sie sind Norweger und haben keine Ski?«

»Landesverrat, ich weiß.« Harry warf einen Blick auf die Zeitung. Auf das Datum: 4. März.

»Sie hatten, wenn ich mich richtig erinnere, auch keinen Weihnachtsbaum.«

»Nicht wahr? Man sollte uns anzeigen.«

»Wissen Sie was, Harry. Manchmal beneide ich Sie.«

Harry hob den Blick.

»Ihnen sind Konventionen egal, Sie brechen einfach alle Regeln. Manchmal wünschte ich mir, ebenso frivol wie Sie zu sein.«

Harry lachte. »So wie Sie vorbereitet sind, wird das bei Ihnen ganz hervorragend gleiten.«

»Was?«

»Viel Spaß.« Harry berührte mit der zusammengefalteten Zeitung zum Gruß die Stirn und ging zurück ins Haus.

Er betrachtete das Foto von Mikael Bellman, dem Einäugigen. Vielleicht war sein Blick so fest, weil er wirklich davon überzeugt war, die Wahrheit zu kennen. Wie ein Priester. Ein Blick, der Menschen bekehrte.

Harry blieb auf dem Flur stehen und betrachtete sich selbst im Spiegel.

Die Wahrheit ist, dass wir es nie sicher wissen werden.

Auch du wirst am Ende überlistet.

Sah man ihn? Sah man den Zweifel?

Rakel saß am Küchentisch und hatte ihnen beiden Kaffee eingeschenkt.

»Schon auf?«, sagte er und küsste sie auf den Kopf. Ihre Haare rochen schwach nach Vanille und Schlaf-Rakel, seinem Lieblingsduft.

»Steffens hat gerade angerufen«, sagte sie und drückte seine Hand.

»Was wollte er denn so früh?«

»Er hat sich nur erkundigt, wie es mir geht. Er hat Oleg gebeten, noch einmal vorbeizukommen. Wegen der Blutprobe, die er ihm vor Weihnachten abgenommen hat. Es besteht aber kein Grund zur Sorge, er will nur überprüfen, ob er even­tuell eine genetische Verbindung finden kann, die dieses ›Etwas‹ erklärt.«

Das »Etwas«. Sie, Oleg und er hatten sich in der ersten Zeit nach Rakels Rückkehr aus dem Krankenhaus, öfter in den Arm genommen. Hatten mehr miteinander geredet. Weniger geplant. Waren häufiger einfach nur zusammen gewesen. Dann hatte sich die Aufregung wieder gelegt, und alles war wie früher. Eis. Und trotzdem schien da unter ihm noch immer etwas zu brodeln.

»Kein Grund zur Sorge«, sagte Harry mehr zu sich selbst als zu ihr. »Es hat dich aber trotzdem beunruhigt, oder?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Hast du noch mal über die Bar nachgedacht?«

Harry setzte sich und trank einen Schluck von seinem Pulverkaffee. »Als ich gestern da war, dachte ich, dass ich ganz klar verkaufen muss. Ich habe keine Ahnung, wie man eine Kneipe führt, und ich fühle mich auch nicht gerade berufen, jungen Leuten ungutes Zeugs auszuschenken.«