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»Aber …«

Harry zog den Reißverschluss der Daunenjacke auf. »Øystein liebt die Arbeit da. Und er hält sich auf Abstand zu dem Zeugs, das er ausschenkt, das weiß ich. Freier Zugang macht wach und achtsam. Und außerdem läuft der Laden.«

»Kein Wunder, wenn die Bar mit zwei Vampiristenmorden, ­einer Fast-Schießerei und Harry Hole hinter dem Tresen werben kann.«

»Hm. Nein, ich glaube eher, dass Olegs Idee mit dem Musikthema die Leute anzieht. Heute Abend ist Frauenabend. Nur Top-Ladys über fünfzig: Lucinda Williams, Emmylou Harris, Patti Smith, Chrissie Hynde …«

»Vor meiner Zeit, Liebster.«

»Morgen gibt’s Jazz aus den Sechzigern. Das Merkwürdige ist, dass da dieselben Leute auftauchen wie beim Punkabend. Und einmal in der Woche läuft Mehmet zu Ehren Paul Rodgers. Øystein meint, wir sollten ein Musikquiz veranstalten. Und …«

»Harry?«

»Ja?«

»Du hörst dich gerade an, als wolltest du die Jealousy Bar behalten.«

»Tue ich das?« Harry kratzte sich am Kopf. »Verdammt, ich habe dafür so etwas von keine Zeit. Außerdem, zwei Chaoten wie Øystein und ich.«

Rakel lachte.

»Außer …«, sagte Harry.

»Außer was …?«

Harry antwortete nicht, lächelte nur.

»Nein, nein, vergiss das ganz schnell«, sagte Rakel. »Ich habe schon genug zu tun, ohne dass ich …«

»Nur einen Tag in der Woche. Freitags hast du doch sowieso frei. Das bisschen Buchhaltung und der Papierkram. Du kriegst auch einen Sack Aktien und wirst Vorstandsvorsitzender.«

»Vorstandsvorsitzende

»Deal.«

Sie schlug seine Hand lachend aus. »Nein.«

»Denk noch mal darüber nach.«

»Okay, ich denk darüber nach, bevor ich nein sage. Gehen wir noch mal ins Bett?«

»Müde?«

»Nicht wirklich.« Sie sah ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg durch halbgeschlossene Lider an. »Ich könnte mir einen Sack von dem vorstellen, was Frau Syvertsen nicht kriegt.«

»Hm. Du spionierst mir nach. Nun, nach Ihnen, Frau Vorstandsvorsitzende.«

Harry warf noch einen letzten Blick auf die Titelseite der Zeitung. 4. März. Das Entlassungsdatum. Er ging hinter ihr her zur Treppe. Am Spiegel vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen.

Svein »Verlobter« Finne betrat den Vår-Frelsers-Friedhof. Es war früh am Morgen, niemand zu sehen. Vor gerade einmal einer Stunde hatte er das Gefängnis Ila als freier Mann verlassen und war gleich hierhergekommen. Vor dem weißen Schnee hoben sich die kleinen schwarzen Grabsteine wie Punkte auf einem Blatt Papier ab.

Mit vorsichtigen, kleinen Schritten schob er sich über den vereisten Weg. Er war inzwischen ein alter Mann, und seit Jahren nicht mehr über Schnee und Eis gelaufen. Vor einem auffällig kleinen Grabstein mit schlichten weißen Buchstaben unter einem Kreuz blieb er stehen.

Valentin Gjertsen.

Keine Worte der Erinnerung. Natürlich. Wer wollte sich an ihn erinnern. Keine Blumen.

Svein Finne nahm die Feder, die er in der Manteltasche hatte, kniete sich hin und steckte sie vor dem Grabstein in den Schnee. Die Cherokee-Indianer legten ihren Toten eine Adlerfeder in den Sarg. Er war Valentin aus dem Weg gegangen, als sie beide in Ila einsaßen. Nicht aus dem gleichen Grund wie die anderen Mithäftlinge, die vor Valentin richtiggehend Angst gehabt hatten. Sondern weil Svein Finne nicht wollte, dass der junge Mann ihn erkannte. Denn das hätte er getan, früher oder später. Ein Blick hatte Svein genügt, als Valentin nach Ila kam. Der Junge hatte die schmalen Schultern und die hohe Stimme seiner Mutter, an die er sich aus der Zeit, als sie miteinander verlobt waren, gut erinnerte. Sie war eine von denen, die eine Abtreibung versucht hatten, als Svein einmal unaufmerksam gewesen war, weshalb er sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft und auf seinen Nachwuchs aufgepasst hatte. Jede Nacht hatte sie zitternd und weinend neben ihm gelegen, bis sie ihren Sohn zu Hause in einem wunderbaren Blutbad zur Welt gebracht und er die Nabelschnur mit seinem eigenen Messer durchtrennt hatte. Sein dreizehntes Kind, sein siebter Sohn. Nicht als Svein den Namen des neuen Insassen gehört, sondern als er erfahren hatte, wofür dieser ­Valentin Gjertsen verurteilt worden war, waren alle Zweifel gewichen.

Svein Finne stand wieder auf.

Die Toten waren tot.

Und die Lebenden würden ihnen bald folgen.

Er holte tief Luft. Ein Mann hatte Kontakt zu ihm aufgenommen und den Durst in ihm geweckt, von dem er gedacht hatte, dass er mit den Jahren abgeklungen sei.

Svein Finne sah in den Himmel. Bald ging die Sonne auf. Die Stadt würde erwachen, sich die Augen reiben und die Alpträume von dem Mörder abschütteln, der im Herbst hier gewütet hatte. Die Leute würden lächeln, weil die Sonne schien, glücklich unwissend im Hinblick auf das, was kommen und den Herbst im Nachhinein als zartes Präludium erscheinen lassen würde. Wie der Vater, so der Sohn. Wie der Sohn, so der Vater.

Der Polizist. Harry Hole. Er war irgendwo da draußen.

Svein Finne drehte sich um und ging los. Mit längeren, schnelleren, sichereren Schritten.

Es gab so viel zu tun.

Truls Berntsen saß in der sechsten Etage und beobachtete, wie das Morgenrot langsam den Ekebergåsen zu erklimmen versuchte. Im Dezember hatte Katrine Bratt ihn aus seiner Hundehütte geholt und ihm ein Büro mit Fenster gegeben. Was nett von ihr war. Trotzdem musste er noch immer Berichte und sämtliches anfallendes Material über abgeschlossene und kalte Fälle archivieren. Der Grund für sein frühes Erscheinen bei minus zwölf Grad war vermutlich, dass es im Büro wärmer als bei ihm zu Hause war. Oder dass er zurzeit so schlecht schlief.

In den letzten Monaten hatte er hauptsächlich verspätet eingegangene Tips oder überflüssige Zeugenaussagen im Vampiristenfall archiviert. Einige behaupteten sogar, Valentin Gjertsen erst kürzlich gesehen zu haben, vermutlich waren das dieselben Leute, die noch immer davon überzeugt waren, dass Elvis lebte. Sinnlos, die DNA-Tests bewiesen zweifelsfrei, dass Harry Hole wirklich Valentin Gjertsen erschossen hatte. Für manche Menschen waren Fakten einfach nur ein Ärgernis, das ihren fixen Ideen im Weg stand.

Ihren fixen Ideen im Weg stand. Truls Berntsen wusste nicht, ­warum dieser Satz sich derart bei ihm festgesetzt hatte. Er hatte ihn nur gedacht, nicht einmal laut ausgesprochen.

Er nahm den nächsten Umschlag, der wie alle bereits geöffnet und von irgendeiner ihm vorgeschalteten Instanz gelesen worden war. Er trug das Logo von Facebook, einen Stempel für Express-Zustellung und die Vermerke »Vampiristenfall« mit Fallnummer und dass er archiviert werden sollte. Darunter standen der Name des Sachbearbeiters Magnus Skarre und dessen Unterschrift.

Truls Berntsen nahm alle Papiere aus dem Umschlag heraus. Zuoberst lag ein auf Englisch verfasster Brief. Truls verstand nicht jedes Wort, erfasste aber, dass es um einen Gerichtsbeschluss zur Freigabe bestimmter Daten ging. Dem Brief beigefügt waren die Ausdrucke der Facebook-Konten aller Mordopfer im Vampiristenfall plus der noch immer vermissten Marte Ruud. Er blätterte durch die Seiten, bemerkte, dass einige Blätter anein­anderhingen, woraus er schloss, dass Skarre nicht alles durchgegangen war. Aber okay, der Fall war aufgeklärt, und der Täter würde nie auf irgendeiner Anklagebank sitzen. Andererseits hätte Truls diesem blöden Aufschneider Skarre gerne an den Karren gepisst. Er überprüfte die Namen, mit denen die Opfer Kontakt hatten. Suchte voller Eifer nach einer Facebook-Nachricht von oder an Valentin Gjertsen oder Alexander Dreyer, mit der er Skarre etwas anhängen konnte. Sein Blick fuhr über die Seiten, verharrte immer wieder bei Absender und Empfänger. Als er mit allem durch war, seufzte er tief. Kein Fehler. Die einzigen Namen, die er neben denen der Opfer erkannte, waren einige derer, die Wyller verhört hatte, weil sie mit den Opfern telefoniert hatten. Es war ja nur natürlich, dass Leute, die telefonisch in Kontakt standen, wie Ewa Dolmen und dieser Lenny Hell, auch Facebook-Freunde waren.