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Truls steckte die Dokumente zurück in den Umschlag, stand auf und trat an den Archivschrank. Zog an der obersten Schublade. Und ließ sie los. Er mochte den Mechanismus, dieses Gleiten, wie ein Güterzug auf gerader Strecke. Bis er die Schublade mit der Hand stoppte und auf den Umschlag starrte.

Dolmen. Nicht Hermansen.

Er durchsuchte die Schublade, bis er auf die Mappe mit den Vernehmungen der Zeugen stieß, die sie durch die Telefonlisten gefunden hatten, und nahm sie mitsamt dem Facebook-Umschlag mit zu seinem Schreibtisch. Er blätterte die Ausdrucke durch, bis er auf den Namen Lenny Hell stieß. Truls erinnerte sich an diesen Namen, weil er ihn mit Lemmy verband, dabei hatte der Typ am Telefon eher gequält und ängstlich geklungen. Seine Stimme hatte gezittert, wie bei vielen, wenn sie mit der ­Polizei sprachen, so unschuldig sie auch waren. Lenny Hell hatte also via Facebook mit Ewa Dolmen, dem zweiten Opfer, kommuniziert.

Truls öffnete die Mappe mit den Vernehmungen und fand seinen Bericht über das kurze Gespräch mit Hell. Und dem Besitzer des Åneby Pizza & Grill. Ergänzt durch eine Notiz, die er noch gar nicht gesehen hatte, in der Wyller mitteilte, dass die örtliche Polizeidienststelle im Nittedal für Lenny und den Pizzeriabesitzer, der bestätigt hatte, dass Lenny zum Zeitpunkt des Mordes an Elise Hermansen in der Pizzeria gewesen war, die Hand ins Feuer legte.

Elise Hermansen. Opfer Nummer eins.

Sie hatten Lenny vernommen, weil er Elise Hermansen mehrmals angerufen hatte. Und via Facebook hatte er auch Kontakt zu Ewa Dolmen gehabt. Da. Das war Magnus Skarres Fehler. Und vielleicht auch Lenny Hells. Wenn es sich nicht um einen Zufall handelte. Single-Männer und -Frauen desselben Alters, die in der gleichen Gegend eines dünnbesiedelten Landes auf der Suche nach jemandem waren. Es gab unwahrscheinlichere Zufälle. Außerdem war der Fall gelöst, warum sollte er sich also neue Fragen stellen. Warum? Andererseits … Die Zeitungen schrieben noch immer über den Vampiristen, und in den USA hatte Valentin Gjertsen einen fragwürdigen, kleinen Fanclub, der sich bereits für die Buch- und Filmrechte an seiner Geschichte interessierte. Der Fall war nicht mehr auf den Titelseiten, konnte dort aber schnell wieder landen. Truls Berntsen griff zum Hörer. Fand Mona Daas Nummer. Starrte darauf. Dann stand er auf, nahm seine Jacke und ging zum Fahrstuhl.

Mona Daa kniff die Augen zusammen und zog die Arme nach vorne. Butterflies mit leichten Gewichten. Sie stellte sich vor, dass sie Flügel ausbreitete und mit gestreckten Armen über den Frognerpark flog, über Oslo. Dass sie alles sehen konnte. Absolut alles.

Und es ihnen zeigte.

Sie hatte einen Dokumentarfilm über ihren Lieblingsfotografen, Don McCullin, gesehen, der als humanitärer Kriegsreporter die schlimmsten Seiten der Menschheit zeigte, damit die Leute endlich nachdachten. Es ginge ihm dabei nicht darum, zu schockieren oder wohligen Schrecken in die Wohnzimmer der Leute zu tragen. Über sich selbst konnte sie das so nicht sagen. Ihr war aufgefallen, dass in diesem hymnischen Film ein Wort nie vorgekommen war. Ehrgeiz. McCullin war der Beste, er musste Tausende von Bewunderern haben. Junge Kollegen, die wie er werden wollten, inspiriert von dem Mythos, wie er mit den Soldaten bei der Tet-Offensive in Hué geblieben war. Von den Anekdoten aus Beirut, Biafra, Kongo, Zypern. McCullin erfuhr größte Anerkennung und unglaubliche Aufmerksamkeit, und trotzdem wurde in dem Film kein Wort darüber verloren, ob einen nicht diese Publicity dazu brachte, sich den härtesten Prüfungen auszusetzen und Risiken einzugehen, die man sich sonst nicht einmal vorstellen konnte. Und dass man dabei – möglicherweise – die gleichen Verbrechen beging, die man dokumentierte, nur um das perfekte Bild zu bekommen, die bahnbrechende Reportage.

Mona hatte sich bereit erklärt, in einen Käfig zu gehen und auf den Vampiristen zu warten. Ohne der Polizei etwas davon zu sagen, aber um eventuell so Menschenleben zu retten. Sie hätte Alarm schlagen können, auch wenn sie sich beobachtet gefühlt hätte. Sie hätte Nora diskret einen Zettel zuschieben können. Stattdessen hatte sie so getan, als müsste sie das Spiel des Vampiristen mitspielen. Genau wie Nora in ihrer sexuellen Phantasie, sich von Harry Hole quasi vergewaltigen zu lassen. Und sie hatte das ganz bewusst getan. Wegen der Anerkennung, des Ruhms und der Bewunderung durch die jungen Kollegen, wenn sie auf dem Podium stand, die Dankesrede für den Journalistenpreis hielt und demütig vorbrachte, dass sie einfach nur Glück gehabt habe und im Grunde nur ein hart arbeitendes, einfaches Mädchen aus einer kleinen Stadt im Norden sei. Bevor sie danach dann etwas weniger demütig von ihrer Jugend erzählte, von Mobbing, Rache und Ehrgeiz. Ja, sie wollte laut über Ehrgeiz sprechen, endlich ohne Angst die Wahrheit sagen. Dass sie fliegen wollte. Fliegen.

»Sie brauchen ein bisschen mehr Widerstand.«

Mit einem Mal war die Bewegung viel schwerer geworden. Sie öffnete die Augen und sah zwei Hände, die die Gewichte leicht nach unten drückten. Jemand stand direkt hinter ihr, so dass sie in dem großen Spiegel, der vor ihr hing, wie eine Art vierarmiger Ganesha aussah.

»Kommen Sie schon, noch zwei«, flüsterte die Stimme ihr ins Ohr. Sie erkannte sie wieder. Es war die Stimme des Polizisten. Jetzt hob er den Kopf, und sie sah ihn im Spiegel vor sich. Er lächelte, blaue Augen, blonde Haare. Weiße Zähne. Anders Wyller.

»Was machen Sie hier?«, fragte sie, vergaß die Arme nach vorne zu ziehen, spürte aber trotzdem, dass sie flog.

»Was machst du hier?«, fragte Øystein Eikeland und stellte das Bier vor den Gast, der am Tresen saß.

»Was?«

»Nicht Sie, der da«, sagte Øystein und zeigte mit dem Daumen hinter sich auf den großen Mann mit den kurzgeschnit­tenen Haaren, der gerade hinter den Tresen getreten war und Wasser in die Cezve füllte.

»Ich bin den Pulverkaffee leid«, sagte Harry.

»Und ich will nicht freihaben«, sagte Øystein. »Ich liebe diese Bar, ich will hier nie mehr weg. Hörst du, was da läuft?«

Harry hielt inne und lauschte der schnellen, swingenden Musik. »Nein, erst wenn jemand singt.«

»Das wird nicht passieren, und das ist ja gerade das Gute dar­an«, sagte Øystein. »Das ist Taylor Swift, 1989

Harry nickte. Er erinnerte sich, dass Swift oder ihre Platten­gesellschaft das Album nicht komplett, sondern nur in einer Version ohne Gesang auf Spotify veröffentlicht hatte.

»Waren wir uns nicht einig, dass heute nur Frauen über fünfzig singen sollen?«, fragte Harry.

»Hörst du nicht, was ich sage?«, fragte Øystein. »Sie singt ja nicht.«

Harry schluckte seinen Kommentar herunter und sagte: »Die Leute kommen aber früh heute.«

»Wegen der Alligatorwurst«, sagte Øystein und zeigte auf die langen Räucherwürste, die über dem Tresen hingen. »In der ersten Woche fanden das alle nur verrückt, jetzt kommen immer wieder dieselben Leute und wollen mehr. Vielleicht sollten wir die Bar in Alligator-Joe umtaufen. Oder in Everglades, oder …«

»Jealousy ist gut.«

»Okay, okay, ich wollte nur mit der Zeit gehen. Nicht dass uns jemand die Idee klaut.«

»Dann finden wir was Neues.«

Harry stellte die türkische Kaffeekanne auf die Kochplatte und drehte sich gerade um, als eine bekannte Gestalt durch die Tür trat.

Harry verschränkte die Arme vor der Brust, während der Neuankömmling sich noch den Schnee von den Schuhen trat und seinen Blick durch die Kneipe schweifen ließ.

»Stimmt was nicht?«, fragte Øystein.

»Doch, schon, denke ich«, sagte Harry. »Pass auf, dass der Kaffee nicht kocht.«

»Du wieder mit dieser türkischen Plörre.«

Harry ging um den Tresen herum zu dem Mann, der in dem warmen Raum seinen Mantel geöffnet hatte.

»Hole«, sagte er.