»Berntsen«, sagte Harry.
»Ich habe etwas für Sie.«
»Warum?«
Truls Berntsen lachte schnaubend. »Wollen Sie nicht wissen, was?«
»Nur wenn ich mit der Antwort auf meine Frage zufrieden bin.«
Harry sah, wie Berntsen sich an einem gleichgültigen Grinsen versuchte, es gelang ihm aber nicht. Stattdessen schluckte er. Dass die Narben in seinem Gesicht so rot wurden, konnte natürlich mit der Kälte draußen zu tun haben.
»Sie sind ein Idiot, Hole, aber Sie haben mir mal das Leben gerettet.«
»Nicht dass ich das noch bereue. Reden Sie.«
Berntsen zog eine Mappe aus der Innentasche seines Mantels. »Lemmy … ich meine Lenny Hell. Er hatte Kontakt zu Elise Hermansen und Ewa Dolmen.«
»Ja, und?« Harry starrte auf die gelbe, von einer Schnur zusammengehaltene Mappe, die Berntsen ihm entgegenstreckte. »Warum gehen Sie damit nicht zu Bratt?«
»Weil die – im Gegensatz zu Ihnen – Rücksicht auf ihre Karriere nehmen und erst zu Mikael Bellman gehen muss.«
»Ja, und?«
»Mikael wird demnächst als Justizminister vereidigt. Er kann jetzt keine Probleme brauchen.«
Harry musterte Truls Berntsen. Er hatte längst begriffen, dass Berntsen nicht so dumm war, wie er wirkte. »Sie meinen, dass er den Fall nicht wieder aufrollen wird.«
Berntsen zuckte mit den Schultern. »Der Vampiristenfall hätte Mikael fast zu Fall gebracht, ist dann doch einer seiner größten Erfolge geworden. Er will diesen Eindruck ganz bestimmt nicht zerstören.«
»Hm. Sie geben mir diese Unterlagen, weil Sie Sorge haben, dass die sonst in irgendeiner Schublade des Polizeipräsidenten verstauben?«
»Ich habe Angst, dass sie geschreddert werden, Hole.«
»Okay, aber das beantwortet noch nicht meine erste Frage. Warum?«
»Haben Sie nicht gehört? Geschreddert.«
»Warum kümmert Sie das, Berntsen? Und jetzt keinen Bullshit, ich weiß, wer und was Sie sind.«
Truls grunzte.
Harry wartete.
Truls sah ihn an, wich Harrys Blick aus und stampfte mit den Füßen auf den Boden, als hätte er noch immer Schnee an den Schuhen.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Und das stimmt, ich weiß es wirklich nicht. Ich dachte, dass es nicht schlecht wäre, wenn Magnus Skarre mal eins vor den Latz kriegt, weil er die Verbindung zwischen Telefon- und Facebook-Daten nicht gesehen hat, aber inzwischen glaube ich, das ist es nicht. Vielleicht. Ja. Ich glaube … ich will einfach, dass … ach, scheiße.« Er hustete. »Aber wenn Sie die Sachen nicht haben wollen, lege ich sie einfach in den Archivschrank. Sollen sie da doch verrotten. Ist mir egal.«
Harry wischte über die beschlagene Scheibe und sah Truls Berntsen nach, der in dem scharfen Winterlicht mit gesenktem Kopf über die Straße ging. Irrte er sich, oder waren bei Truls Berntsen gerade Symptome einer Krankheit zu sehen gewesen, von der gute Polizisten gemeinhin heimgesucht wurden?
»Was hast du da?«, fragte Øystein, als Harry wieder hinter den Tresen trat.
»Polizeiporno«, sagte Harry und legte die gelbe Mappe auf den Tresen. »Ausdrucke und Vernehmungsprotokolle.«
»Vampiristenfall? Ist der nicht gelöst?«
»Doch, schon, es gibt aber noch ein paar lose Fäden. Formales. Hörst du nicht, dass der Kaffee kocht?«
»Hörst du nicht, dass Taylor Swift nicht singt?«
Harry öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hörte stattdessen aber nur sein eigenes Lachen. Er liebte diesen Kerl. Diese Bar. Dann goss er ihnen beiden den verunglückten Kochkaffee ein und trommelte auf der Mappe den Rhythmus von »Welcome to Some Pork«. Seine Augen glitten über die Seiten, und er dachte, dass Rakel bestimmt ja sagte, wenn er sich mucksmäuschenstill verhielt und ihr genug Zeit gab.
Sein Blick verharrte. Und das Eis unter ihm schien zu knacken.
Sein Herz begann schneller zu schlagen. Auch du wirst am Ende überlistet, Harry.
»Was ist?«, fragte Øystein.
»Was soll sein?«
»Du siehst aus, als hättest du … tja …«
»Gespenster gesehen?«, fragte Harry und las noch einmal, was er schon gelesen hatte. Nur um ganz sicher zu sein.
»Nein«, sagte Øystein.
»Nein?«
»Nein, du siehst eher so aus, als wärst du … aufgewacht.«
Harry hob den Blick von der Mappe und sah zu Øystein. Spürte, dass er … vollkommen ruhig war.
»Hier ist sechzig«, warnte Harry. »Und es ist glatt.«
Oleg ging etwas vom Gaspedal. »Warum fährst du eigentlich nicht selbst, du hast doch Auto und Führerschein?«
»Weil ihr besser fahrt, du und Rakel«, sagte Harry und blinzelte in das gleißende Sonnenlicht, das von den schneebedeckten Hügeln ringsherum reflektierte. Ein Schild verkündete, dass es bis Åneby noch vier Kilometer waren.
»Hätte dann nicht Mama fahren können?«
»Ich dachte, es wäre ganz interessant für dich, mal so eine kleine Polizeiwache von innen zu sehen. Vielleicht musst du irgendwann mal in so was arbeiten.«
Oleg bremste hinter einem Traktor, dessen Hinterräder den Schnee aufwirbelten, scharf ab. Die Schneeketten sangen auf der Straße. »Ich will ins Morddezernat und nicht in so ein Kaff.«
»Oslo ist auch ein Dorf, und wir sind nur eine halbe Stunde entfernt.«
»Ich habe mich für den FBI-Kurs in Chicago beworben.«
Harry lächelte. »Wenn du solche Ambitionen hast, sollten dich ein paar Jahre auf einer kleinen Wache nicht abschrecken. Da vorne musst du links abbiegen.«
»Jimmy«, stellte der rundliche, nette Mann sich vor, der vor der Nittedaler Wache stand, die sich Wand an Wand mit dem Arbeitsamt in einem modernen Neubau befand. Die frische Bräune ließ Harry vermuten, dass Jimmy gerade erst aus den Ferien in Gran Canaria zurück war, wobei die Tatsache, dass er spontan an die Kanaren dachte, mit seinem Vorurteil über Leute aus Nittedal mit einem Y im Namen zu tun hatte.
Harry schüttelte die Hand des Mannes. »Danke, dass Sie sich an einem Samstag Zeit für uns genommen haben, Jimmy. Das ist Oleg, Studierender an der Polizeihochschule.«
»Sieht aus wie ein zukünftiger Kollege«, sagte Jimmy und maß den 190 Zentimeter großen jungen Mann mit dem Blick. »Es ist mir eine Ehre, dass Harry Hole persönlich hier zu uns rauskommt. Ich fürchte nur, dass Sie Ihre Zeit vergeuden.«
»Ja?«
»Sie haben am Telefon gesagt, dass Sie Lenny Hell nicht erreichen konnten, deshalb habe ich ein paar Nachforschungen angestellt. Wie es aussieht, ist er direkt nach der Vernehmung nach Thailand gereist.«
»Wie es aussieht?«
»Ja, er hat die Nachbarn und seine Kunden informiert, dass er eine Weile weg sein wird. Er hat jetzt angeblich eine thailändische Nummer, aber keiner, mit dem ich gesprochen habe, konnte mir die geben. Es weiß auch niemand, wo genau er sich aufhält.«
»Hört sich nach Eigenbrötler an.«
»Das können Sie mit Fug und Recht sagen.«
»Familie?«
»Single. Einzelkind. Er ist nie zu Hause ausgezogen, und seit die Eltern tot sind, wohnt er allein im Schweinestall.«
»Schweinestall?«
»So heißt das Haus bei uns. Die Familie Hell hat über Generationen Schweine gezüchtet und verdammt gut damit verdient. Vor hundert Jahren haben sie sich dann da oben ein ziemlich untypisches dreistöckiges Haus gebaut. Die Leute fanden das wohl ein bisschen großtuerisch und haben das Haus dann Schweinestall getauft. Und das ist so geblieben.« Der Polizist amüsierte sich. »Tja, einmal Bauer, immer Bauer.«
»Hm. Was, glauben Sie, macht Lenny Hell so lange in Thailand?«
»Tja, was machen Leute wie Lenny in Thailand?«
»Ich kenne Lenny nicht«, sagte Harry.
»Er ist ein netter Kerl«, sagte der Polizist. »Kluger Informatiker. Arbeitet von zu Hause aus. Manchmal rufen wir ihn an, wenn wir hier kleinere Computerprobleme haben. Nichts Besonderes. Geordnete Verhältnisse, würde ich sagen. Aber mit den Frauen hat er immer so seine Probleme gehabt.«
»Was soll das heißen?«
Jimmy schaute auf die Atemwolken in der Luft. »Es ist verdammt kalt hier draußen, sollen wir nicht reingehen und einen Kaffee trinken?«