»Ich könnte mir vorstellen, dass Lenny auf der Suche nach einer Thaifrau ist«, sagte Jimmy, während er ihnen Filterkaffee in die weißen Becher des Arbeitsamts goss. Er selbst benutzte eine Tasse mit Lillestrøm-SK-Logo. »Der Konkurrenz hier war er einfach unterlegen.«
»Wieso?«
»Lenny ist, wie gesagt, so ein einsamer Wolf, am liebsten ist er für sich, er redet nicht viel, und die Frauen fliegen nicht gerade auf ihn, um es mal so zu sagen. Außerdem wird er unheimlich schnell eifersüchtig. Aber eigentlich kann er keiner Fliege was zuleide tun, geschweige denn einer Frau, soweit ich weiß. Einmal ist da allerdings doch was gewesen, eine Frau hat uns angerufen und gesagt, dass Lenny sich nach dem Treffen zu große Hoffnungen gemacht habe.«
»Stalking?«
»So heißt das heute wohl, ja. Lenny hatte ihr, allem Anschein nach, eine Unmenge an SMS und Blumen geschickt, obwohl sie ihm klar zu verstehen gegeben hatte, dass sie sich nicht mehr für ihn interessierte. Er soll ihr auch nach der Arbeit an ihrer Wohnung aufgelauert haben. Sie hat ihm dann noch mal gesagt, dass sie ihn nicht mehr sehen wolle, und danach war wohl auch Schluss. Sie war dann aber irgendwann der Meinung, dass in ihrer Wohnung etwas verändert war, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Weshalb sie uns angerufen hat.«
»Sie hat geglaubt, dass er in ihrer Wohnung war?«
»Ich habe daraufhin mit Lenny gesprochen, aber er hat alles abgestritten. Danach haben wir nichts mehr davon gehört.«
»Hat Lenny einen 3-D-Drucker?«
»Einen was?«
»Eine Maschine, mit der man Schlüssel kopieren kann.«
»Keine Ahnung, aber er ist, wie gesagt, Informatiker.«
»Wie eifersüchtig ist er?«, fragte Oleg, und die zwei anderen wandten sich ihm zu.
»Auf einer Skala von eins bis zehn?«, fragte Jimmy. Harry konnte nicht sagen, ob das ironisch gemeint war.
»Ich frage mich nur, ob das morbide Eifersucht sein könnte«, fügte Oleg hinzu und sah unsicher zu Harry.
»Wovon redet der Junge, Hole?« Jimmy nahm laut hörbar einen Schluck aus seiner kanarienvogelgelben Tasse. »Will er wissen, ob Lenny jemanden getötet haben kann?«
»Nun, wie ich schon am Telefon gesagt habe, sind wir nur dabei, die letzten losen Fäden im Vampiristenfall zusammenzuführen. Und Lenny hat mit zweien der Opfer geredet.«
»Die dieser Valentin getötet hat«, sagte Jimmy. »Oder gibt es da irgendwelche Zweifel?«
»Keine Zweifel«, sagte Harry. »Ich wollte mit Lenny nur über diese Gespräche reden. Nur sehen, ob dabei noch etwas Neues herauskommt. Etwas, das wir noch nicht wissen. Auf der Karte habe ich gesehen, dass sein Haus ganz nah liegt, deshalb dachte ich, wir könnten mal hochfahren und mal schauen. Das wär dann alles.«
Der Polizist liebkoste das Symbol auf seiner Tasse. »In der Zeitung stand, dass Sie Dozent an der Hochschule sind. Kein Ermittler.«
»Ich bin wie Lenny Freelancer.«
Jimmy verschränkte die Arme vor der Brust, so dass der linke Ärmel etwas nach oben rutschte und das verblasste Tattoo eines Frauenkörpers zum Vorschein kam. »Okay, Hole. Wie Sie sich vorstellen können, passiert hier bei uns nicht so viel, wofür ich dankbar bin. Als Sie angerufen haben, habe ich nicht nur ein paar Telefonate gemacht, sondern bin auch zu Lenny gefahren. Das heißt, ich bin so weit gefahren, wie es ging. Der Schweinestall liegt am Ende eines Waldwegs, und nach dem letzten Nachbarn sind es bis dort noch anderthalb Kilometer. Auf diesem Wegstück liegt der Schnee gut einen halben Meter hoch. Genauso hoch wie rechts und links des Weges. Es gibt auch weder Reifen- noch Fußspuren. Nur Elch und Fuchs. Allenfalls noch ein Wolf. Verstehen Sie? Da war seit Wochen niemand, Hole. Wenn Sie Lenny sprechen wollen, müssen Sie ein Flugticket nach Thailand kaufen. Pattaya ist wohl ein beliebtes Ziel, wenn man eine Thaifrau sucht, habe ich gehört.«
»Schneescooter?«, fragte Harry.
»Was?«
»Wenn ich morgen mit einem Durchsuchungsbeschluss zurückkomme, können Sie uns dann einen Schneescooter zur Verfügung stellen?«
Harry sah, dass es mit der guten Laune des Polizisten vorbei war. Der Mann hatte angenommen, dass er den Kollegen aus Oslo bei einem netten Kaffeeplausch von der Effektivität dörflicher Polizeiarbeit überzeugen könnte. Stattdessen zweifelten sie seine Schlussfolgerungen an und verlangten von ihm, ein Spezialfahrzeug zur Verfügung zu stellen, als wäre er irgendein Materialverwalter.
»Für anderthalb Kilometer braucht man keinen Scooter«, sagte Jimmy und zog die sonnenverbrannte Nase hoch, auf der die Haut sich zu schälen begann. »Nehmen Sie Ski, Hole.«
»Ich habe keine Ski. Scooter und jemand, der ihn fahren kann.«
Die Stille, die folgte, dauerte eine gefühlte Ewigkeit.
»Ich habe gesehen, dass der junge Mann gefahren ist.« Jimmy legte den Kopf schief. »Haben Sie keinen Führerschein, Hole?«
»Doch, aber ich habe einmal einen Kollegen totgefahren.« Harry nahm seine Tasse und leerte sie. »Und möchte vermeiden, dass das noch einmal passiert. Danke für den Kaffee, und bis morgen dann.«
»Was war das denn?«, fragte Oleg, als sie mit gesetztem Blinker darauf warteten, auf die Hauptstraße abbiegen zu können. »Da kommt der extra samstags in die Wache, um uns zu helfen, und du fährst ihm so an den Karren?«
»Habe ich das?«
»Ja!«
»Hm. Blink mal in die andere Richtung.«
»Nach Oslo geht’s nach rechts.«
»Und laut Navi ist das Åneby Pizza & Grill nur zwei Minuten nach links.«
Der Inhaber des Åneby Pizza & Grill, der sich als Tommy vorgestellt hatte, wischte die Hände an seiner Schürze ab und warf einen Blick auf das Foto, das Harry ihm hinhielt.
»Kann sein, ich erinnere mich aber nicht mehr so genau daran, wie der Mann an Lennys Tisch aussah, ich weiß nur noch, dass Lenny an dem Abend, an dem die Frau in Oslo ermordet wurde, hier war und dass noch jemand bei ihm war. Lenny ist ein Einzelgänger, er ist immer allein und nur selten hier. Nur deshalb habe ich mich gleich daran erinnert, als Sie im Herbst angerufen haben.«
»Der Mann auf dem Bild hieß Alexander oder Valentin. Haben Sie gehört, dass Lenny im Gespräch mal diesen Namen erwähnt hat?«
»Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, sie reden gehört zu haben, und ich war an dem Abend allein hier, meine Frau stand in der Küche.«
»Wann sind sie gegangen?«
»Tja, sie haben sich eine Knut Spezial XXL mit Peperoni und Schinken geteilt.«
»An das erinnern Sie sich?«
Tommy klopfte sich grinsend mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Bestellen Sie jetzt eine Pizza, und kommen Sie in drei Monaten wieder, und fragen Sie mich, welche das war. Ich gebe Ihnen denselben Rabatt, den die Polizeiwache hier im Ort auch kriegt. Alle Pizzateige sind übrigens Low-Carb und mit Nüssen.«
»Klingt verlockend, aber mein Junge sitzt draußen im Auto. Danke für die Hilfe.«
Oleg fuhr in die früh hereinbrechende Dämmerung.
Beide waren in Gedanken versunken.
Harry rechnete nach. Valentin konnte gut eine Pizza mit Lenny geteilt haben und dann noch nach Oslo gefahren sein, um Elise Hermansen zu töten.
Ein entgegenkommender Lastwagen raste so schnell an ihnen vorbei, dass der ganze Wagen wackelte.
Oleg räusperte sich. »Wie willst du dir diesen Durchsuchungsbeschluss beschaffen?«
»Hm?«
»Ich meine, du arbeitest nicht mehr im Dezernat, und was du hast, reicht auch nicht für einen Beschluss.«
»Nicht?«
»Nicht, wenn ich das, was in den Lehrbüchern steht, richtig verstanden habe.«
»Lass hören«, sagte Harry lächelnd.
Oleg wurde etwas langsamer. »Es liegen eindeutige Beweise vor, dass Valentin eine Reihe von Frauen umgebracht hat. Lenny Hell hat zufällig zwei davon getroffen. Das allein gibt der Polizei noch nicht das Recht, in Lenny Hells Haus einzubrechen, während er in Thailand ist.«
»Einverstanden, auf dieser Grundlage werden wir keinen Durchsuchungsbeschluss bekommen. Also fahren wir nach Grini.«