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Harry schob sich auf dem Stuhl vor. »Aber ist es möglich, dass Lenny Hell wegen seiner morbiden Eifersucht mit Valentin Gjertsen zusammengearbeitet hat, damit dieser die Frauen umbringt, die Lenny in die Wüste geschickt haben?«

Hallstein Smith legte nachdenklich zwei Finger an sein Kinn und nickte.

Harry lehnte sich im Stuhl zurück. Sah auf den Bildschirm. Er zeigte ein Standbild, auf dem zu sehen war, wie der angeschossene Valentin die Stallungen verließ. Der Zeiger der Waage, der bei seinem Kommen 74,7 Kilo angezeigt hatte, gab jetzt 73,2 Kilo an. Auf dem Boden des Büros müssten anderthalb Liter Blut sein. Einfache Mathematik, die Aufgabe war gelöst. Valentin Gjertsen und Lenny Hell. Das Ergebnis lautete zwei.

»Dann muss der Fall ja wieder aufgerollt werden«, sagte Oleg.

»Kommt nicht in Frage«, sagte Gunnar Hagen und sah auf die Uhr.

»Und warum nicht?«, fragte Harry und signalisierte Nina, dass er die Rechnung wollte.

Der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen seufzte. »Weil der Fall geklärt ist, Harry, und weil mir das, was du gerade erzählt hast, ein bisschen zu sehr nach Verschwörungstheorie klingt. Zufälle, wie etwa die Tatsache, dass Lenny Hell Kontakt zu zwei Opfern hatte oder dass Valentin sich angeblich in diesem Stall auskannte. Das sind so Sachen, aus denen Journalisten sich zusammenbrauen, dass Kennedy von der CIA erschossen wurde und der wahre Paul McCartney längst tot ist. Der Vampiristenfall ist in der Öffentlichkeit immer noch sehr präsent, und wir machen uns zu Clowns, wenn wir den Fall auf Basis derart unsicherer Indizien jetzt wieder aufrollen.«

»Ist es wirklich das, was dir Sorgen macht, Chef? Du willst dich nicht zum Clown machen?«

Gunnar Hagen lächelte. »Bei deinem ›Chef‹ habe ich mich schon immer wie ein Clown gefühlt. Weil im Grunde doch alle wussten, dass du hier der Chef warst. Aber das war okay, ich konnte damit leben, du hattest das Recht, uns herumzuscheuchen, weil das ja auch zu Ergebnissen geführt hat. Aber dieser Fall ist abgeschlossen. Ein für alle Mal.«

»Mikael Bellman ist der wahre Grund, oder?«, sagte Harry. »Er will nicht riskieren, dass sein Image noch Schaden nimmt, bevor er zum Justizminister vereidigt wird.«

Hagen zuckte mit den Schultern. »Danke, dass du mich noch so spät an einem Samstagabend auf einen Kaffee eingeladen hast, Harry. Wie geht es bei euch zu Hause?«

»Gut«, sagte Harry. »Rakel ist wieder richtig fit. Und Oleg kocht gerade zusammen mit seiner Freundin. Und wie ist es bei euch?«

»Auch alles in Ordnung. Katrine und Bjørn haben sich ein Haus gekauft. Aber das weißt du ja bestimmt schon.«

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Es lief ja eine Zeitlang nicht so gut, aber jetzt sind sie allem Anschein nach doch wieder ein Herz und eine Seele. Katrine ist schwanger.«

»Wirklich?«

»Ja, der Termin ist im Juni. Die Welt dreht sich weiter.«

»Für einige von uns«, sagte Harry, reichte Nina einen Zweihunderter, worauf sie ihm sofort das Wechselgeld rausgab. »Für andere nicht. Hier im Schrøder steht sie still.«

»Das sehe ich«, sagte Gunnar Hagen. »Ich dachte, Bargeld würde gar nicht mehr angenommen.«

»Das meinte ich nicht. Danke, Nina.«

Hagen wartete, bis die Bedienung gegangen war. »Wolltest du mich deshalb hier treffen? Um mich daran zu erinnern? Glaubst du, ich hätte das vergessen?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Harry. »Aber bis wir nicht wissen, was mit Marte Ruud passiert ist, ist dieser Fall nicht gelöst. Nicht für ihre Familie, nicht für die, die hier arbeiten, nicht für mich. Und für dich auch nicht, das sage ich dir. Und auch wenn Mikael Bellman diesen Fall noch so tief vergraben hat, ich grabe ihn wieder aus.«

»Harry …«

»Ich brauche doch nur einen Durchsuchungsbeschluss und eine Genehmigung von dir, dieser einen Sache nachzugehen, danach höre ich auf, versprochen. Nur dieser eine Gefallen, Gunnar. Wenn das erledigt ist, bin ich raus.«

Hagen zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Gunnar?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Eigentlich bist du ja auch gar nicht mehr mein Chef. Also, was sagst du?«

»Das wäre ein klarer Verstoß gegen die Anweisungen des Polizeipräsidenten.«

»Du kannst Bellman doch auch nicht leiden, er ist ja bald auch nicht mehr dein Chef. Komm schon, du warst doch immer ein Befürworter guter, gründlicher Polizeiarbeit, Gunnar.«

»Du weißt, dass du dich wie ein Arschkriecher anhörst, Harry?«

»Also?«

Hagen seufzte tief. »Ich verspreche nichts, aber ich denke drüber nach. Okay?« Der Dezernatsleiter knöpfte seinen Mantel zu und stand auf. »Ich erinnere mich an einen Rat, der mir gegeben wurde, als ich als Ermittler anfing, Harry. Wenn du überleben willst, musst du lernen loszulassen.«

»Sicher ein guter Rat«, sagte Harry, führte die Kaffeetasse an die Lippen und sah zu Hagen auf. »Wenn man denn der Meinung ist, dass Überleben so verdammt wichtig ist.«

Kapitel 35

Sonntagvormittag

»Da sind sie«, sagte Harry zu Hallstein Smith, der bremste und vor den beiden Männern mit dem Wagen zum Stehen kam, die mit verschränkten Armen mitten auf dem Waldweg warteten.

Sie stiegen aus.

»Brr«, sagte Smith und steckte die Hände in die Taschen seiner mehrfarbigen Anzugjacke. »Du hast recht, ich hätte mehr anziehen sollen.«

»Nimm die hier«, sagte Harry und nahm die Strickmütze mit dem aufgestickten St.-Pauli-Totenkopf ab.

»Danke«, sagte Smith und zog sie tief über beide Ohren.

»Guten Tag, Hole«, sagte der Dorfpolizist. Hinter ihm, auf dem unbefahrbaren Waldweg, standen zwei Schneescooter.

»Guten Tag«, sagte Harry und nahm die Sonnenbrille ab. Das Licht, das der Schnee reflektierte, brannte in den Augen. »Und danke, dass Sie das so kurzfristig organisieren konnten. Das hier ist Hallstein Smith.«

»Sie müssen uns nicht dafür danken, dass wir unseren Job ­machen«, sagte der Polizist und nickte in Richtung des anderen Mannes, der wie er einen blau-weißen Overall trug. Harry musste unwillkürlich an etwas groß geratene Matschanzüge von Kindergartenkindern denken. »Artur, nimmst du den Typ in der Anzugjacke?«, fragte Jimmy.

Harry sah zu, wie der Scooter mit Smith über den Waldweg verschwand. Es hörte sich an, als würde in der kalten, klaren Luft eine Motorsäge aufheulen.

Jimmy stieg über den langen Scootersitz und räusperte sich, bevor er den Startknopf drückte. »Und Sie gestatten, dass der Dorfpolizist Sie fährt?«

Harry schob sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase und nahm hinter ihm Platz. Das Telefonat am letzten Abend war denkbar kurz gewesen.

»Jimmy.«

»Harry Hole hier. Ich habe, was ich brauche, können Sie uns morgen früh zwei Scooter zur Verfügung stellen und das Haus zeigen?«

»Oha.«

»Wir sind zu zweit.«

»Wie haben Sie denn in so kurzer Zeit …?«

»Passt es um halb zwölf?«

Pause.

»Okay.«

Der Schneescooter folgte der Spur des ersten. Unter ihnen blinkte das Sonnenlicht auf den Scheiben der wenigen Häuser und dem Kirchturm im Tal. Die Temperaturen sanken abrupt, als sie in einen dichten Wald kamen, der die Sonne aussperrte. Und noch weiter, als sie die Geländesenke mit dem vereisten Fluss erreichten.

Die Fahrt dauerte nur drei oder vier Minuten, trotzdem fror Harry so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen, als sie neben Smith und dem anderen Beamten vor einem überwucherten, vereisten schmiedeeisernen Tor anhielten.

»Da wären wir. Willkommen im Schweinestall«, sagte der Dorfpolizist.