Dreißig Meter hinter dem Tor lag eine große, ein wenig verfallene dreigeschossige Villa, die an allen Seiten von hohen Fichten umgeben war. Sollte die Holzverkleidung jemals mit Farbe gestrichen worden sein, war diese seit langem abgeblättert, geblieben war eine silbergraue Patina. Anstelle von Gardinen hingen eine Art Decken oder grobes Leinen in den Fenstern.
»Ein ziemlich finsterer Ort«, sagte Harry.
»Drei Etagen gothic style«, sagte Smith. »Passt ganz und gar nicht in die Gegend.«
»Die Hell-Familie hat in vielerlei Hinsicht nicht in die Gegend gepasst«, sagte der Dorfpolizist. »Sie waren aber immer gesetzestreu.«
»Hm, darf ich Sie bitten, etwas Werkzeug mitzunehmen?«
»Artur, nimmst du das Brecheisen mit? Kommt, bringen wir es hinter uns.«
Harry versank bis zur Mitte des Oberschenkels im Schnee, als er vom Scooter stieg, sich einen Weg zum Tor bahnte und darüberkletterte. Die drei anderen folgten ihm.
Sie gingen die überdachte Veranda an der Vorderseite des Hauses entlang. Die Südlage ließ vermuten, dass das Haus im Sommer vielleicht doch ein bisschen Sonne abbekam. Warum sollte man sonst eine Veranda haben? Nur um sich von den Mücken aussaugen zu lassen? Harry trat an die Tür und versuchte, durch das matte Glas etwas zu sehen, bevor er den rostroten, altmodischen Klingelknopf drückte.
Aus dem Inneren war ein surrender Ton zu hören.
Die drei anderen schlossen zu Harry auf, und Harry klingelte ein weiteres Mal.
»Wäre er zu Hause, würde er in der Tür stehen und auf uns warten«, sagte der Dorfpolizist. »Diese Scooter hört man zwei Kilometer weit, und der Weg führt ja nur hierher.«
Harry klingelte noch einmal.
»Lenny Hell hört die in Thailand nicht«, sagte der Polizist. »Meine Familie wartet, wir wollen eine Skitour machen. Also los, Artur, schlag das Glas ein.«
Der Beamte schwang das Brecheisen, und mit einem trockenen Klirren zerbarst das Fenster neben der Tür. Dann zog der Mann einen Handschuh aus, schob den Arm durch das Loch und tastete einen Moment lang mit konzentrierter Miene die Tür ab, bis Harry hörte, dass sich das Schloss öffnete.
»Bitte«, sagte Jimmy, öffnete die Tür und wies mit der Hand den Weg.
Harry trat ein.
Sein erster Eindruck war, dass das Haus unbewohnt wirkte. Und in gewisser Weise antiquiert, was ihn an die Häuser von Berühmtheiten denken ließ, die zu Museen umgestaltet worden waren. Es erinnerte ihn daran, dass er mit vierzehn mit seinen Eltern und seiner Schwester Søs in Moskau gewesen war, wo sie das Haus von Fjodor Dostojewski besucht hatten. Es war das seelenloseste Haus, in dem Harry jemals gewesen war. Vielleicht hatte ihn Schuld und Sühne, das er drei Jahre später gelesen hatte, deshalb so schockiert.
Harry ging durch den Flur in das große, offene Wohnzimmer und drückte den Lichtschalter an der Wand. Nichts geschah. Das Tageslicht, das durch den groben Stoff fiel, reichte aber aus, um seinen Atem in der kalten Luft vor sich zu sehen, die wenigen altmodischen Möbel, die planlos im Raum verteilt standen, als wäre der dazugehörige Tisch in einem ungünstig verlaufenen Erbstreit entfernt worden. Er sah imposante Ölgemälde, die vermutlich wegen der wechselnden Temperaturen schief an den Wänden hingen, und er sah, dass Lenny Hell nicht in Thailand war.
Seelenlos.
Lenny Hell – oder jemand, der der Person auf dem Foto ähnelte, das Harry von Lenny Hell gesehen hatte – saß in einem Ohrensessel. Die Haltung erinnerte Harry an seinen Großvater, der immer so geschlafen hatte, wenn er betrunken genug war. Nur mit dem Unterschied, dass Hells rechter Fuß ein bisschen angehoben war und sein rechter Unterarm ein paar Zentimeter über der Lehne des Sessels schwebte. Der Leichnam schien etwas zur Seite gekippt zu sein, nachdem die Leichenstarre eingetreten war. Und das musste eine ganze Weile zurückliegen. Vermutlich fünf Monate.
Der Kopf ließ Harry unwillkürlich an ein Osterei denken. Zerbrechlich, leer, ausgeweidet. Die Haut war so sehr geschrumpft, dass der Mund offen stand und das trockene graue Zahnfleisch rund um die Zähne zu sehen war. In der Stirn war ein schwarzes Loch, ohne Blut, da Lenny Hell seinen Kopf nach hinten gebeugt hatte und steif an die Decke starrte.
Als Harry um den Sessel herumging, sah er, dass etwas den hohen Sesselrücken durchschlagen hatte. Am Boden rechts neben dem Sessel lag ein schwarzer Metallgegenstand in Form einer Taschenlampe. Harry erkannte ihn wieder. Als Harry zehn Jahre alt gewesen war, hatte sein Großvater gemeint, er wäre alt genug, um zu sehen, wo die Rippchen herkamen, die sie an Weihnachten aßen. Er hatte ihn mit hinter den Stall genommen, ein seltsames Ding an Heidruns Stirn gehalten und irgendeinen Knopf gedrückt. Nach einem scharfen Knall war ein Zucken durch die dicke Sau gegangen, dann war sie irgendwie überrascht zu Boden gesackt. Anschließend hatten sie sie ausbluten lassen. Am besten erinnerte Harry sich an den Geruch des Pulvers und an das Zittern von Heidruns Beinen, das noch eine ganze Weile angehalten hatte. Laut Großvater war das nur die Mechanik des Körpers, er hatte gesagt, Heidrun sei längst tot. Trotzdem hatte Harry noch lange danach Alpträume von den zuckenden Schweinefüßen gehabt.
Die Bodendielen hinter Harry knirschten, und er hörte jemanden immer schneller und schwerer atmen.
»Lenny Hell?«, fragte Harry, ohne sich umzudrehen.
Der Dorfpolizist musste sich zweimal räuspern, erst dann brachte er das »Ja« heraus.
»Kommen Sie nicht näher«, sagte Harry, hockte sich hin und sah sich im Raum um.
Aber er spürte nichts. Dieser Tatort war still. Vielleicht weil er zu alt war, oder weil es kein Tatort war, sondern ein Raum, in dem der Mann, der hier wohnte, beschlossen hatte, nicht mehr leben zu wollen.
Harry holte das Handy hervor und rief Bjørn Holm an.
»Ich habe hier eine Leiche in Åneby im Nittedal. Ein Mann namens Artur wird dich anrufen und dir erklären, wo er euch trifft.«
Harry legte auf, ging in die Küche und drückte den Schalter, aber auch in diesem Raum tat es das Licht nicht. Die Küche war aufgeräumt, nur in der Spüle stand ein Teller mit etwas Angetrocknetem, das von einer Pilzschicht bedeckt war. Vor dem Kühlschrank war eine Eislache.
Harry ging in den Flur.
»Schauen Sie mal, ob Sie irgendwo einen Sicherungskasten finden«, sagte er zu Artur.
»Vielleicht ist der Strom abgestellt worden«, sagte der Dorfpolizist.
»Die Klingel hat’s getan«, sagte Harry und ging die Treppe hoch, die im Flur in einem Bogen nach oben führte.
Im ersten Stock waren drei Schlafzimmer. Alle waren sorgsam aufgeräumt, nur in einem war die Bettdecke zur Seite geschlagen worden, über einem Stuhl hing Kleidung.
Weiter oben im zweiten Stock war ein Raum, der offensichtlich als Büro genutzt worden war. In den Regalen und vor dem Fenster standen Bücher und Ordner, und auf einem länglichen Tisch thronte ein Computer mit drei großen Bildschirmen. Harry drehte sich um. Neben der Tür stand ein etwa siebzig mal siebzig Zentimeter großer Kasten aus Metall und Glas, in dessen Mitte ein weißer Plastikschlüssel lag. Ein 3-D-Drucker.
Weit entfernt war eine Glocke zu hören. Harry trat ans Fenster und erblickte die Kirche. Vermutlich war der Sonntagsgottesdienst gerade zu Ende. Hells Haus war höher als breit, wie ein Turm mitten im Wald, als hätten die Erbauer einen Ort gewollt, von dem aus man sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Sein Blick fiel auf das Notizbuch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Auf den handgeschriebenen Namen auf dem Deckel. Er schlug es auf und las die erste Seite. Dann hob er den Blick, entdeckte die vielen identischen Notizbücher im Regal und ging zurück zur Treppe.
»Smith!«
»Ja?«
»Komm mal hoch!«
Als der Psychologe dreißig Sekunden später über die Türschwelle trat, ging er nicht zum Schreibtisch, an dem Harry durch das Notizbuch blätterte, sondern blieb in der Tür stehen und sah sich verblüfft um.
»Kennst du die?«, fragte Harry.