»Ja.« Smith trat ans Regal und zog eines der Notizbücher heraus. »Das sind meine. Das sind meine Unterlagen. Die, die gestohlen wurden.«
»Dann wohl auch das hier, oder?«, fragte Harry und hielt das Buch hoch, so dass Smith lesen konnte, was auf dem Umschlag stand.
»Alexander Dreyer. Das ist meine Handschrift, ja.«
»Ich verstehe nicht alle Fachbegriffe, wohl aber, dass Dreyer besessen von The Dark Side of the Moon war. Und von Frauen. Und Blut. Du schreibst hier, dass er im Begriff ist, Vampirist zu werden, und du dir, sollte das so weitergehen, überlegen musst, die Schweigepflicht zu brechen und dich deswegen bei der Polizei zu melden.«
»Dreyer ist dann, wie gesagt, nicht weiter zu mir gekommen.«
Harry hörte, dass irgendwo eine Tür aufgerissen wurde, und schaute aus dem Fenster. Artur streckte den Kopf über das Geländer der Veranda und übergab sich in den Schnee.
»Wo haben die den Sicherungskasten gesucht?«
»Im Keller«, sagte Smith.
»Warte hier!«
Er ging nach unten. Im Flur brannte Licht, die Tür zum Keller war offen. Geduckt ging er über die enge, dunkle Treppe nach unten. Schlug sich die Stirn an und spürte dort die Haut aufplatzen. Die Schelle einer Wasserleitung. Im Keller angekommen, brannte vor einem Verschlag eine einzelne Glühbirne. Jimmy stand mit hängenden Armen da und starrte hinein.
Harry ging zu ihm. Oben im Wohnzimmer hatte die Kälte alle Gerüche geschluckt, obwohl der Leichnam Spuren von Verwesung gezeigt hatte. Hier unten war es deutlich feuchter, und obwohl es auch hier kühl war, wurde es niemals so kalt wie im Erdgeschoss. Als Harry sich näherte, bemerkte er, dass das, was er für Gestank von verfaulten, alten Kartoffeln gehalten hatte, von einer weiteren Leiche kommen musste.
»Jimmy«, sagte er leise. Der Polizist zuckte zusammen und drehte sich um. Seine Augen waren weit geöffnet, und er hatte eine Platzwunde auf der Stirn. Harry stutzte erst, verstand dann aber, dass die Wunde von derselben Wasserleitung stammen musste, an der auch er sich den Kopf aufgeschlagen hatte.
Der Polizist trat zur Seite, und Harry warf einen Blick in den Verschlag.
Darin war ein Käfig. Drei mal zwei Meter. Eisengitter und ein offenes Vorhängeschloss. Vermutlich, um darin irgendein Tier gefangen zu halten. Jetzt hielt der Käfig niemanden gefangen. Weil außer einer leeren Hülle nichts mehr da war. Seelenlos. Harry verstand trotzdem, warum der junge Beamte so heftig reagiert hatte.
Obwohl die Verwesung schon deutlich fortgeschritten war, hatten sich weder Mäuse noch Ratten an der nackten Frau vergriffen, die an einem Seil vom oberen Gitter herabhing. Und weil der Leichnam so intakt war, erkannte Harry im Detail, was mit ihr gemacht worden war. Mit einem Messer. Vor allem mit einem Messer. Harry hatte schon viele Tote gesehen. Er war abgehärtet, war es inzwischen gewohnt, Verstümmelungen zu sehen, die von Gewalt und Kampf herrührten, von einer tödlichen Verletzung oder rituellem Wahn. Aber das alles hatte ihn nicht auf das vorbereitet, was hier passiert war. Diese Tat war so zielgerichtet, so fokussiert darauf, physische Schmerzen zuzufügen und sich dabei an der verzweifelten Angst zu laben, wenn das Opfer erkannte, was als Nächstes passieren würde. Die sexuelle Gier und kreative Befriedigung des Mörders. Und der Schock, die verzweifelte Hilflosigkeit und die Not desjenigen, der die Verstümmelte fand. Hatte der Täter erreicht, was er hier erreichen wollte?
Jimmy begann hinter Harry zu husten.
»Nicht hier«, sagte Harry. »Gehen Sie nach draußen.«
Er hörte die schlurfenden Schritte des Polizisten hinter sich, während er die Tür des Käfigs öffnete und eintrat. Die junge Frau, die dort hing, war mager. Ihre Haut war weiß wie der Schnee draußen, mit kleinen roten Fleckchen. Kein Blut. Sommersprossen. Und ein großes Loch im Bauch, von einer Kugel.
Harry zweifelte daran, dass sie ihrem Leiden selbst ein Ende gemacht und sich erhängt hatte. Die Todesursache konnte natürlich die Schusswunde im Bauch sein, andererseits konnte der Schuss auch aus Frustration über ihren Tod abgefeuert worden sein. Weil sie nicht mehr funktionierte, wie Kinder ein kaputtgegangenes Spielzeug zertrümmerten.
Harry schob der Toten die roten Haare aus dem Gesicht. Es gab keine Zweifel. Das Gesicht des Mädchens war ausdruckslos. Zum Glück. Wenn ihr Geist ihn irgendwann in naher Zukunft in der Nacht heimsuchte, war es Harry lieber, das Gesicht drückte nichts aus.
»W…wer ist das?«
Harry drehte sich um. Hallstein Smith trug noch immer die St.-Pauli-Mütze, als fröre er. Harry glaubte aber nicht, dass er vor Kälte zitterte.
»Das ist Marte Ruud.«
Kapitel 36
Sonntagabend
Harry hatte den Kopf auf die Hände gestützt und lauschte den schweren Schritten und den Stimmen in der Etage über ihm. Sie waren im Wohnzimmer. In der Küche. Im Flur. Sperrten ab, stellten kleine Fähnchen auf, machten Fotos.
Dann zwang er sich, den Kopf zu heben und die Augen noch einmal zu öffnen.
Er hatte dem Dorfpolizisten erklärt, dass sie Marte Ruud nicht abschneiden durften, bis die Spurensicherung vor Ort war. Natürlich konnte man sich einreden, dass sie bereits in Valentins Kofferraum verblutet war, genug Blut hatten sie dort gefunden. Aber die Matratze, die auf der linken Seite des Käfigs lag, erzählte eine andere Geschichte. Sie war schwarz und getränkt von dem, was menschliche Körper absonderten. Und über der Matratze hingen Handschellen.
Auf der Kellertreppe waren jetzt Schritte zu hören. Eine bekannte Stimme fluchte laut, und dann tauchte Bjørn Holm mit einer blutenden Wunde auf der Stirn auf. Er trat neben Harry, warf einen Blick in den Käfig und dann auf Harry. »Jetzt verstehe ich, warum die beiden Polizisten identische Kratzer auf der Stirn haben. Du hast den auch. Warum hat es eigentlich keiner von euch für nötig erachtet, mir das zu sagen?« Er drehte sich um und rief in Richtung Treppe: »Passt auf die Wasserleitung …!«
»Autsch!«, ertönte eine tiefe Stimme.
»Wie kann man eine Kellertreppe nur so anlegen, dass man sich unweigerlich den Kopf …?«
»Du willst sie nicht ansehen«, sagte Harry leise.
»Was?«
»Ich auch nicht, Bjørn. Ich bin jetzt schon seit einer Stunde hier, aber es wird, verdammt noch mal, nicht leichter!«
»Und warum sitzt du dann noch hier?«
Harry stand auf. »Sie war so lange allein. Ich dachte …«
Harry merkte, dass ihm die Stimme wegbrach. Er ging schnell zur Treppe und nickte dem Kollegen von der Spurensicherung zu, der sich die Stirn rieb.
Der Dorfpolizist stand oben im Flur und telefonierte.
»Smith?«, fragte Harry.
Jimmy zeigte nach oben.
Hallstein Smith saß vor dem Computer und las in dem Notizbuch mit Alexander Dreyers Namen, als Harry zur Tür hereinkam.
Er hob den Blick. »Das da unten, Harry, das ist Alexander Dreyers Werk.«
»Nennen wir ihn lieber Valentin. Bist du dir sicher?«
»Das steht alles hier in meinen Notizen. Er hat mir seine Phantasien, eine Frau zu foltern und zu ermorden, genau beschrieben. Als wäre das ein Kunstwerk, das er plante.«
»Aber das reichte nicht, um zur Polizei zu gehen?«
»Ich habe darüber nachgedacht, aber wenn wir der Polizei all die grotesken Verbrechen melden würden, die unsere Patienten in ihrer Phantasie begehen, würden wir – und die Polizei – kaum noch etwas anderes tun, als uns um sie zu kümmern.« Smith stützte den Kopf auf die Hände. »Wenn ich an all die Menschenleben denke, die ich hätte retten können …«
»Quäl dich nicht, Hallstein, es ist absolut nicht sicher, dass die Polizei irgendetwas unternommen hätte. Und noch etwas: Da Lenny Hell deine Unterlagen gestohlen hat, ist es durchaus möglich, dass er Valentins Phantasien kopiert hat.«
»Das ist nicht ausgeschlossen. Nicht wahrscheinlich, wenn du mich fragst, aber auch nicht unmöglich.« Smith kratzte sich am Kopf. »Ich verstehe aber noch immer nicht, wie Hell wissen konnte, dass er in meinen Unterlagen den Mörder findet, den er braucht.«