Katrine räusperte sich und schaltete das Aufnahmegerät in ihrem Handy ein.
»Heute ist Donnerstag, der 22. September, 16 Uhr, und wir befinden uns im Sitzungsraum 1 des Dezernats für Gewaltverbrechen zur ersten Besprechung der vorläufigen Ermittlergruppe im Fall der ermordeten Elise Hermansen.«
Katrine sah Truls Berntsen als Letzten in den Raum schleichen und ganz hinten Platz nehmen.
Sie fuhr mit der Zusammenfassung der Fakten fort, obgleich die meisten im Raum diese bereits kannten: Elise Hermansen war am Morgen des 22. September ermordet aufgefunden worden. Die vermutliche Todesursache war der Blutverlust infolge der Stichverletzungen am Hals. Bis jetzt hatten sich keine Zeugen gemeldet. Vorläufig gab es keine Verdächtigen und keine bestätigten physischen Spuren. Was sie an organischem, möglicherweise von Menschen stammendem Material in der Wohnung gefunden hatten, war zur DNA-Analyse geschickt worden. Mit den Ergebnissen war hoffentlich im Laufe einer Woche zu rechnen. Weitere mögliche physische Spuren wurden von der Kriminaltechnik sowie der Rechtsmedizin untersucht. Mit anderen Worten: Sie hatten nichts.
Sie sah einige der Anwesenden die Arme vor der Brust verschränken und tief durchatmen, fast schon gähnen. Und sie wusste, was ihre Mitarbeiter dachten: Das alles waren nur Allgemeinplätze, inhaltslose Wiederholungen, nicht genug, um zu rechtfertigen, dass sie alle dafür ihre Arbeit unterbrochen hatten. Dann erklärte Katrine, wie sie ganz einfach darauf gekommen war, dass sich der Täter bereits in der Wohnung befunden haben musste, als Elise nach Hause gekommen war. Sie hörte selbst, dass ihre Worte ätzend selbstbeweihräuchernd klangen, als würde sie als neue Leiterin um Anerkennung betteln. Sie spürte die aufkeimende Verzweiflung und dachte an das, was Harry gesagt hatte, als sie ihn angerufen und um Rat gebeten hatte.
»Fang den Täter«, hatte er gesagt.
»Harry, danach habe ich dich nicht gefragt, ich wollte von dir wissen, wie man eine Ermittlergruppe leitet, die einem nicht vertraut.«
»Und ich habe dir die Antwort gegeben.«
»Einen Mörder zu fassen löst nicht mein …«
»Das löst alles.«
»Alles? Und welche deiner Probleme sind dadurch gelöst worden, Harry? So rein persönlich?«
»Keines, aber du hast auch nach der Führungsrolle gefragt.«
Katrine sah sich noch einmal im Raum um, fügte einen weiteren unnötigen Satz an, holte tief Luft und registrierte eine Hand, deren Finger auf die Armlehne trommelten.
»Wenn Elise Hermansen diese Person am früheren Abend in die Wohnung gelassen und ihr erlaubt hat, dort zu bleiben, während sie selbst ausgegangen ist, suchen wir nach jemandem, den sie kennt. Deshalb sind wir die Kontaktlisten ihres Telefons und PCs durchgegangen. Tord?«
Tord Gren stand auf. Er wurde Reiher genannt, weil er mit seinem unglaublich langen Hals, seiner schmalen, schnabelartigen Nase und seiner übermenschlichen Spannweite einem Reiher glich. Die archaische, runde Brille und die langen Locken, die das schmale Gesicht rahmten, ließen einen spontan an die Siebziger denken.
»Wir haben ihr iPhone geknackt und sind die Anrufliste der letzten drei Tagen durchgegangen«, sagte Tord, ohne den Blick von seinem Tablet zu nehmen. Er mied generell den Augenkontakt mit anderen Menschen. »Die Adressliste scheint rein beruflich zu sein. Kollegen und Mandanten.«
»Keine Freunde?«, fragte Magnus Skarre, einer der taktischen Ermittler. »Eltern?«
»Ich denke, es verhält sich wirklich so, wie ich es gesagt habe«, erwiderte Tord, nicht unfreundlich, aber nachdrücklich. »Ähnlich sieht es mit dem Mailverkehr aus. Alles nur beruflich.«
»Das Anwaltsbüro bestätigt, dass Elise häufig Überstunden gemacht hat«, fügte Katrine hinzu.
»Singlefrauen machen so was«, sagte Skarre.
Katrine sah irritiert zu dem eher kleinen, leicht gedrungenen Ermittler, obwohl sie wusste, dass dieser Kommentar nicht auf sie gemünzt war. Dafür war Skarre weder verschlagen noch clever genug.
»Sie hatte kein Passwort für ihren PC, aber da war auch nicht viel zu finden«, fuhr Tord fort. »Die Logfiles zeigen, dass sie vor allem Nachrichten liest und googelt. Sie hat ein paar Pornoseiten besucht, aber ganz normale Sachen, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie über diese Seiten jemanden kontaktiert hat. Das Problematischste, was sie in den letzten Jahren gemacht hat, war, auf Popcorn Time Wie ein einziger Tag zu streamen.«
Da Katrine den IT-Experten nicht gut genug kannte, wusste sie nicht, ob er mit »problematisch« die Nutzung des Piratenservers als solchen oder die Wahl des Filmes meinte. Sie selbst fand eher Letzteres problematisch. Sie vermisste Popcorn Time.
»Ich habe ein paar naheliegende Passwörter für ihren Facebook-Account ausprobiert«, fuhr Tord fort. »Ohne Erfolg, deshalb habe ich das Ganze jetzt an das Kriminalamt weitergeleitet.«
»Wieso das denn?«, fragte Anders Wyller, der in der ersten Reihe Platz genommen hatte.
»Wir brauchen eine gerichtliche Verfügung«, sagte Katrine. »Der Antrag für die Offenlegung eines Facebook-Accounts geht über das Kriminalamt ans Gericht, und wenn das zustimmt, wird die Angelegenheit an die amerikanische Gerichtsbarkeit und eventuell sogar an Facebook weitergegeben. Bestenfalls dauert das Wochen, vielleicht sogar Monate.«
»Das war alles«, sagte Tord Gren.
»Nur eine Frage von einem Neuling«, sagte Wyller. »Wie bist du in ihr Telefon gekommen? Mit einem Fingerabdruck der Leiche?«
Tord sah Wyller kurz an und schüttelte den Kopf.
»Wie dann? Ältere iPhone-Codes bestehen aus vier Ziffern. Das ergibt zehntausend verschiedene Möglichkeiten …«
»Mikroskop«, unterbrach Tord ihn und tippte etwas in sein Tablet.
Katrine kannte Tords Methode, schwieg aber. Tord Gren hatte keinerlei Ausbildung, weder als Polizist noch sonst was. Ein paar Jahre IT-Technik in Dänemark, aber kein Examen. Trotzdem hatte die IT-Abteilung des Präsidiums ihn, ohne zu zögern, als Analytiker für alles, was mit technischen Spuren zu tun hatte, eingestellt.
»Selbst härtestes Glas hat an den Stellen Mikrogruben, an denen die Fingerkuppen am häufigsten tippen«, sagte Tord. »Ich finde heraus, wo diese Gruben am tiefsten sind, und schon hab ich den Code. Vier Ziffern bedeuten vierundzwanzig Kombinationsmöglichkeiten.«
»Aber das iPhone erlaubt nur drei Fehlversuche«, sagte Anders. »Man muss also …«
»Ich habe zwei Versuche gebraucht«, sagte Tord und lächelte. Katrine war sich nicht ganz sicher, ob er deshalb lächelte oder wegen etwas, das er auf dem Tablet gesehen hatte.
»Oha«, sagte Skarre. »Glück gehabt.«
»Im Gegenteil, eher Pech, dass ich nicht schon beim ersten Versuch richtiglag. Wenn der Code, wie in diesem Fall, die Ziffern Eins und Neun enthält, handelt es sich in der Regel um Jahreszahlen, und dann bleiben nur zwei Möglichkeiten.«
»Das reicht«, sagte Katrine. »Wir haben mit der Schwester von Elise gesprochen, und die hat uns gesagt, dass Elise schon seit Jahren keinen festen Partner mehr hatte und vermutlich auch keinen wollte.«
»Tinder«, sagte Wyller.
»Sorry?«
»Hat sie eine Tinder-App auf dem Handy?«
»Ja«, sagte Tord.
»Die Jungs, die Elise im Treppenhaus gesehen haben, meinten, sie sei ziemlich aufgebrezelt gewesen. Sie kam also weder vom Sport noch von der Arbeit und ganz sicher nicht von einer Freundin. Und wenn sie keine feste Beziehung will …«
»Gut«, sagte Katrine. »Tord?«
»Wir haben die App überprüft, und da gab es, gelinde gesagt, viele Matches. Tinder ist dummerweise an Facebook gekoppelt, so dass wir zu den Chats, wenn es die denn gibt, vorerst keinen Zugang haben.«