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Kirchenglocken. Jetzt?

Er hatte keine Ahnung, ob sie läuteten, weil jemand gestorben oder geboren war, aber das Geräusch selbst jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Im gleichen Moment sah er vor sich im Dunkeln ein paar gelbe Augen, die sich bewegten. Tieraugen. Hyänenaugen. Und ein immer lauter werdendes Knurren. Es kam schnell näher.

Harry hob die Hände vor das Gesicht, aber die Scheinwerfer des Schneescooters, der vor ihm gehalten hatte, blendeten ihn trotzdem.

»Wohin wollen Sie?«, fragte eine Stimme hinter dem Licht.

Harry nahm das Telefon, schaltete es ein und reichte es dem Scooterfahrer. »Dahin.«

60.148083, 10.777245

Auf beiden Seiten der schmalen Landstraße war Wald. Keine Autos. Ein blaues Schild.

Harry fand den Baum exakt hundert Meter im rechten Winkel von der Straße entfernt.

Er stapfte durch den Schnee, bis er an dem zersplitterten, verkohlten Stamm stand. Der Schnee lag hier nicht ganz so hoch. Als er in die Hocke ging, sah er die helle Stelle auf dem von den Scheinwerfern des Scooters beleuchteten Stamm. Abriebspuren von einem Tau oder einer Kette. Was heißen musste, dass Marte Ruud zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte.

»Sie waren hier«, sagte er und sah sich um. »Valentin und Lenny, sie waren beide hier. Ob sie sich dabei begegnet sind?«

Die Bäume starrten ihn stumm wie widerspenstige Zeugen an.

Harry ging zurück zu dem Scooter und setzte sich hinter den Beamten.

»Nehmen Sie die Leute von der Spurensicherung mit hier raus. Vielleicht ist hier noch irgendwas zu finden.«

Der Beamte drehte sich etwas um. »Wohin wollen Sie jetzt?«

»In die Stadt, mit all den schlechten Neuigkeiten.«

»Sie wissen, dass die Angehörigen von Marte Ruud bereits informiert sind?«

»Hm. Aber nicht die Angehörigen im Schrøder

Aus dem Wald war der Schrei eines Vogels zu hören. Es klang wie eine verspätete Warnung.

Kapitel 37

Mittwochnachmittag

Harry schob die turmhohen Stapel der schriftlichen Prüfungen zur Seite, um die beiden jungen Männer besser sehen zu können, die vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatten.

»Ich habe eure Antworten im Fall des Fünften Zeichens gelesen«, sagte er. »Kompliment dafür, dass ihr in eurer Freizeit eine Aufgabe löst, die ich dem Abschlussjahrgang gestellt habe …«

»Aber?«, fragte Oleg.

»Kein Aber.«

»Unsere Lösungen sind besser als die der anderen, nicht wahr?« Jesus hatte die Hände hinter seinen langen schwarzen Zopf gelegt.

»Nein«, sagte Harry.

»Nicht? Und wer war besser?«

»Die Gruppe um Ann Grimset, glaube ich.«

»Was?«, fragte Oleg. »Die hatten doch noch nicht mal einen klaren Hauptverdächtigen.«

»Stimmt, sie sind wirklich zu dem Ergebnis gekommen, keinen Hauptverdächtigen zu haben. Und basierend auf den Informa­tionen, die sie bekommen haben, war diese Schussfolgerung richtig. Ihr habt die richtige Person ins Visier genommen, aber nur, weil ihr euch nicht zurückhalten konntet und über Google recherchiert habt, wer vor zwölf Jahren tatsächlich der Schuldige gewesen ist. Deshalb hakt es bei euch beim Fazit. Ihr habt ­einige falsche Schlüsse gezogen, um zur richtigen Antwort zu kommen.«

»Dann hast du eine Aufgabe gestellt, für die es keine richtige Lösung gibt?«, fragte Oleg.

»Nicht auf Basis der gegebenen Informationen«, sagte Harry. »Ein Vorgeschmack auf die Zukunft, wenn ihr wirklich Ermittler werden wollt.«

»Und was macht man dann?«

»Neue Informationen suchen«, sagte Harry, »oder man kombiniert das, was man bereits hat, auf neue Weise. Häufig ist die Lösung eines Falls schon in dem Material verborgen, das man hat.«

»Und wie war das dann bei dem Vampiristenfall?«, fragte Jesus.

»Ein paar neue Informationen. Und etwas, das wir schon hatten.«

»Hast du gesehen, was heute in der VG stand?«, fragte Oleg. »Dass Lenny Hell Valentin Gjertsen verleitet hat, die Frauen zu töten, wegen denen Hell eifersüchtig war. Genau wie in Othello

»Hm. Ich meine mich zu erinnern, dass du gesagt hast, dass das Mordmotiv in Othello nicht in erster Linie Eifersucht, sondern Ehrgeiz war.«

»Dann halt das Othello-Syndrom. Den Artikel hat übrigens nicht Mona Daa geschrieben. Merkwürdig, ich habe schon lange nichts mehr von ihr gelesen.«

»Wer ist Mona Daa?«, fragte Jesus.

»Die einzige Kriminaljournalistin, die wirklich einen Überblick hat«, sagte Oleg. »Eine seltsame Frau aus dem Norden. Trainiert mitten in der Nacht und benutzt Old Spice. Aber Harry, jetzt erzähl schon!«

Harry musterte die beiden hochkonzentrierten Gesichter vor sich und versuchte, sich zu erinnern, ob er selbst als Polizeischüler auch einmal so motiviert gewesen war. Vermutlich nicht. Er hatte die meiste Zeit einen Kater gehabt und es nicht abwarten können, sich wieder volllaufen zu lassen. Diese beiden waren besser. Er räusperte sich. »Okay. Aber dann ist das hier eine Vorlesung, und ich erinnere euch daran, dass ihr als Polizeischüler der Schweigepflicht unterliegt. Verstanden?«

Die beiden nickten und beugten sich noch weiter vor.

Harry lehnte sich im Stuhl zurück. Spürte das Verlangen nach Nikotin und wusste, dass die Zigarette auf der Treppe gut schmecken würde.

»Wir sind Hells PC durchgegangen und haben darin wirklich alles gefunden«, sagte er. »Ablaufpläne, Tagebucheinträge, Informationen über die Opfer, über Valentin Gjertsen alias Alexander Dreyer und Hallstein Smith. Und über mich …«

»Über Sie?«, fragte Jesus.

»Lass ihn weiterreden«, sagte Oleg.

»Hell hat sich selbst eine Anleitung geschrieben, wie er die Schlüssel dieser Frauen kopieren kann. Er hatte herausgefunden, dass acht von zehn Frauen bei einem Tinder-Date ihre Tasche am Tisch liegen lassen, wenn sie auf die Toilette gehen, und dass die Schlüssel in der Regel in der kleinen Seitentasche mit dem Reißverschluss aufbewahrt werden. Dass es durchschnittlich fünfzehn Sekunden dauert, einen beidseitigen Wachsabdruck von drei Schlüsseln zu machen, und dass es schneller geht, die Schlüssel zu fotografieren. Er war sich aber auch dar­über im Klaren, dass bestimmte Schlüsseltypen anhand von Fotos nicht in ein genaues 3-D-Profil zu übertragen waren, so dass mit dem 3-D-Drucker keine Kopien möglich waren.«

»Wollen Sie damit sagen, dass er schon beim ersten Date wusste, dass er eifersüchtig sein würde?«, fragte Jesus.

»In manchen Fällen vermutlich schon«, sagte Harry. »Er hat geschrieben, dass es keinen Grund gab, sich nicht den Zugang zu ihren Wohnungen zu sichern, wenn das so einfach war.«

»Creepy«, flüsterte Jesus.

»Was hat ihn dazu gebracht, Valentin auszuwählen, und wie hat er ihn gefunden?«, fragte Oleg.

»Alles, was er brauchte, stand in den Patientenakten, die er bei Smith gestohlen hat. In diesen Unterlagen war vermerkt, dass Alexander Dreyer ein Mann mit derart lebhaften vampiristischen Mordphantasien war, dass Smith erwogen hatte, ihn zu melden. Dagegen sprach allerdings, dass Dreyer einen hohen Grad an Selbstbeherrschung zeigte und ein ziemlich geordnetes Leben führte. Ich nehme an, dass die Kombination aus Mordlust und Selbstbeherrschung ihn für Hell zum perfekten Kandidaten gemacht hat.«

»Aber was hatte Hell Valentin Gjertsen anzubieten?«, fragte ­Jesus. »Geld?«

»Blut«, sagte Harry. »Junges, warmes Blut von weiblichen Opfern, die in keinerlei Zusammenhang mit Dreyer standen.«