»Morde ohne offensichtliche Motive und ohne dass Mörder und Opfer zuvor jemals in Kontakt standen, sind am schwersten aufzuklären«, sagte Oleg, während Jesus zustimmend nickte. Harry wurde bewusst, dass das Zitat aus einer seiner Vorlesungen stammte.
»Hm. Für Valentin war es das Wichtigste, seinen Decknamen Alexander Dreyer komplett aus der Sache herauszuhalten. Neben seinem neuen Gesicht hatte es ihm dieser Name ermöglicht, wieder unter die Leute zu gehen, ohne entlarvt zu werden. Dass kommuniziert wurde, dass Valentin Gjertsen hinter den Morden stand, machte ihm keine großen Sorgen. Am Ende konnte er ja nicht mal der Verlockung widerstehen, uns vorzuführen, wer hinter den Taten steht.«
»Uns?«, fragte Oleg. »Oder dir?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Egal. Es hat uns dem Mann, nach dem wir schon all diese Jahre fahnden, ja kein bisschen näher gebracht. Er konnte Hells Regie uneingeschränkt folgen und weitermorden. Und das ohne Risiko, denn mit Hells Schlüsselkopien kam Valentin ja in die Wohnungen der Opfer.«
»Eine perfekte Symbiose«, sagte Oleg.
»Wie Hyäne und Geier«, flüsterte Jesus. »Der Geier zeigt der Hyäne den Weg, indem er über dem verletzten Tier kreist, und die Hyäne bringt es dann um. Fressen für beide.«
»Valentin tötet also Elise Hermansen, Ewa Dolmen und Penelope Rasch«, sagte Oleg. »Aber was ist mit Marte Ruud? Kannte Lenny Hell auch sie?«
»Nein, das war Valentins eigenes Werk. Und diese Tat war gegen mich gerichtet. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass ich ihn als armseligen Perversen bezeichnet habe, und hat sich deshalb jemanden gesucht, der mir nahestand.«
»Nur, weil Sie ihn als Perversen bezeichnet haben?« Jesus verzog das Gesicht.
»Narzissten werden gerne geliebt«, sagte Harry. »Oder gehasst. Dann bestätigt und festigt die Furcht der anderen ihr Selbstbild. Was sie als kränkend empfinden, ist übersehen oder verachtet zu werden.«
»Dasselbe ist dann doch noch mal bei diesem Podcast mit Smith passiert«, sagte Oleg. »Valentin hat rotgesehen und ist direkt zum Hof gefahren, um ihn zu töten. Glaubst du, dass Valentin da eine akute Psychose hatte? Ich meine, er hat sich so lange beherrscht, und seine ersten Morde waren kalte, durchgeplante Aktionen. Aber Smith und Marte Ruud scheinen eher spontane Reaktionen zu sein.«
»Vielleicht«, sagte Harry. »Es ist aber auch möglich, dass er inzwischen das Selbstvertrauen hatte, das Serienmörder oft entwickeln, wenn ihre ersten Morde problemlos verlaufen sind. Manche glauben dann, sie könnten über Wasser laufen.«
»Aber warum hat Lenny Hell sich umgebracht?«, fragte Jesus.
»Tja«, sagte Harry. »Irgendwelche Vorschläge?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Oleg. »Lenny hat Morde an Frauen geplant, die ihn gedemütigt und es deshalb verdient hatten, aber plötzlich hatte er auch das Blut von Marte Ruud und Mehmet Kalak an den Händen. Zwei Unschuldige, die nichts mit alldem zu tun hatten. Sein Gewissen hat sich gemeldet, und er konnte nicht mehr mit dem leben, was er angerichtet hatte.«
»Nee«, sagte Jesus. »Lenny hat von Anfang an vorgehabt, sich umzubringen, wenn das alles vorüber war. Es ging um diese drei Frauen, die er töten wollte. Elise, Ewa und Penelope.«
»Ich bezweifle das«, sagte Harry. »Hell hatte noch weitere Frauennamen in seinen Aufzeichnungen, samt den dazugehörigen Schlüsseln.«
»Okay, und was, wenn er sich nicht selbst das Leben genommen hat?«, fragte Oleg. »Was, wenn Valentin ihn getötet hat? Sie könnten sich über die Morde an Mehmet und Marte gestritten haben. Für Lenny waren das ja unschuldige Opfer. Vielleicht wollte Lenny sich stellen, und Valentin hat das herausbekommen.«
»Oder Valentin war Lenny ganz einfach leid«, sagte Jesus. »Es kommt durchaus vor, dass eine Hyäne sich mal einen Geier schnappt, wenn diese ihm zu nahe kommen.«
»Auf dem Kugelschussapparat sind nur Lennys Fingerabdrücke«, sagte Harry. »Natürlich ist es möglich, dass Valentin Lenny umgebracht und diese Tat dann wie einen Selbstmord hat aussehen lassen. Aber warum sollte er sich diese Mühe machen? Die Polizei hatte ja schon genug andere Morde, um ihn lebenslänglich wegzusperren. Und wenn Valentin es darauf angelegt hätte, all seine Spuren zu verwischen, hätte er Marte Ruuds Leiche nicht im Keller gelassen. Ganz zu schweigen von dem PC und den Dokumenten oben im zweiten Stock, die ja beweisen, dass er mit Hell zusammengearbeitet hat.«
»Okay«, sagte Jesus. »Was den ersten Vorschlag angeht, bin ich der gleichen Meinung wie Oleg. Lenny Hell hat eingesehen, was er ausgelöst hat, und wollte damit nicht länger leben.«
»Das, was man als Erstes sagt, sollte man immer ernst nehmen«, sagte Harry. »In der Regel basiert das auf mehr Informationen, als einem bewusst ist. Und das Einfache ist häufig sowieso richtig.«
»Es gibt da aber eine Sache, die ich nicht verstehe«, sagte Oleg. »Lenny und Valentin wollten nicht zusammen gesehen werden, in Ordnung. Aber warum so komplizierte Übergaben? Hätten sie sich nicht einfach bei einem der beiden zu Hause treffen können?«
Harry schüttelte den Kopf. »Für Lenny war es wichtig, seine Identität vor Valentin verborgen zu halten. Das Risiko, dass Valentin irgendwann gefasst werden würde, war ja nicht gerade gering.«
Jesus nickte. »Und er hatte Angst davor, dass Valentin die Polizei dann zu ihm führen würde, um seine Strafe zu mindern.«
»Und Valentin wollte Lenny definitiv nicht verraten, wo er wohnte«, sagte Harry. »Das ist der Grund dafür, warum Valentin so lange nicht entdeckt wurde. Mit so etwas war er wirklich pedantisch.«
»Dann ist der Fall aufgeklärt, und es gibt keine offenen Fragen mehr?«, fragte Oleg. »Hell hat sich das Leben genommen, und Valentin hat Marte Ruud gekidnappt. Aber habt ihr auch Beweise dafür, dass er es war, der Marte Ruud umgebracht hat?«
»Das Dezernat ist sich da ziemlich sicher«, sagte Harry.
»Weil?«
»Weil sie im Schrøder Valentins DNA gefunden haben, weil im Kofferraum seines Wagens Martes Blut war und sie die Kugel gefunden haben, mit der ihr in den Bauch geschossen wurde. Sie steckte in der Wand in Hells Keller. Der Winkel, mit dem die Kugel da eingedrungen ist, zeigt, dass Marte Ruud erschossen wurde, bevor man sie aufgehängt hat. Die Kugel stammt aus derselben Ruger Redhawk, die Valentin bei sich hatte, als er Smith erschießen wollte.«
»Nur dass du nicht dieser Meinung bist«, sagte Oleg.
Harry zog eine Augenbraue hoch. »Nicht?«
»Wenn du sagst, dass das Dezernat sich ziemlich sicher ist, heißt das, dass du etwas anderes denkst.«
»Hm.«
»Also, was denkst du?«, fragte Oleg.
Harry fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich finde, dass es nicht so wichtig ist, wer ihr den Gnadenstoß versetzt hat. Denn in diesem Fall kann man das wirklich so bezeichnen. Gnade. Die Matratze im Käfig war voller DNA. Blut, Schweiß, Samen, Erbrochenes. Manches davon von ihr, anderes von Lenny Hell.«
»Jesus«, sagte Jesus. »Sie meinen, dass Hell sie missbraucht hat?«
»Ja, wenn es nicht sogar mehrere waren.«
»Noch mehr als Valentin und Hell?«
»Über der Kellertreppe ist eine Wasserleitung. Man stößt sich zwangsläufig den Kopf daran, wenn man nicht weiß, dass sie da ist. Ich habe deshalb Bjørn Holm, den leitenden Kriminaltechniker, gebeten, mir eine Liste aller zu schicken, die dort ihre DNA hinterlassen haben. Die ganz alten Sachen sind nicht mehr nachweisbar, er hat aber trotzdem das Profil von sieben Personen gefunden. Wir haben wie immer DNA-Proben von allen genommen, die am Tatort gearbeitet haben und haben Übereinstimmungen mit dem Dorfpolizisten, seinem Assistenten, Bjørn, Smith und mir und noch einem weiteren Mitarbeiter von der Spurensicherung, den wir nicht rechtzeitig warnen konnten. Das siebte Profil aber konnten wir nicht identifizieren.«
»Es stammte weder von Valentin Gjertsen noch von Lenny Hell?«
»Nein, wir wissen nur, dass es ein Mann ist, der mit Lenny Hell nicht verwandt ist.«