»Vielleicht einfach nur jemand, der dort unten etwas zu tun hatte«, sagte Oleg. »Ein Elektriker, Klempner oder was weiß ich.«
»Möglich«, sagte Harry. Sein Blick fiel auf die Zeitung Dagbladet, die aufgeschlagen vor ihm lag. Er hatte eben erst das Interview mit Bellman gelesen, der kurz vor der Vereidigung zum Justizminister stand. Er las noch einmal den fettgedruckten Text: Es freut mich besonders, dass dank der hartnäckigen, unerbittlichen Suche der Polizei auch Marte Ruud gefunden werden konnte. Die Angehörigen haben das ebenso verdient wie die Polizei. Diese Tatsache macht es mir leichter, jetzt aus meinem Amt als Polizeipräsident zu scheiden.
»Ich muss jetzt los, Jungs.«
Die drei verließen das Chateau Neuf, wie die Polizeihochschule in Polizistenkreisen genannt wurde, gemeinsam, und erst als sie sich davor trennen wollten, kam Harry die Einladung in den Sinn. »Hallstein ist mit seiner Vampirdoktorarbeit fertig. Am Freitag hat er seine Disputation. Wir sind eingeladen.«
»Was ist denn eine Disputation?«
»Ein mündliches Examen vor feierlich gekleideten Verwandten und Freunden«, sagte Jesus. »Besser, sich dabei nicht zu blamieren.«
»Mama und ich werden gehen«, sagte Harry. »Ich weiß nicht, ob du Zeit oder Lust hast. Ståle ist übrigens einer von denen, die Fragen stellen.«
»Oha«, sagte Oleg. »Wann ist diese Prüfung denn genau? Ich habe am Morgen noch einen Termin in der Ullevål-Klinik.«
Harry zog die Stirn in Falten. »Warum?«
»Nur eine Blutprobe, die Steffens entnehmen will. Er erforscht eine seltene Blutkrankheit namens Systemische Mastozytose. Sollte Mama die gehabt haben, hat ihr Blut sich selbst repariert.«
»Mastozytose?«
»Als Ursache gilt ein Genfehler, die sogenannte c-kit-Mutation, die ist aber nicht erblich. Steffens hofft allerdings, dass der Stoff im Blut, der die Krankheit möglicherweise heilen kann, erblich ist. Deshalb will er mein Blut mit dem von Mama vergleichen.«
»Hm, das ist also die genetische Verbindung, von der deine Mutter gesprochen hat.«
»Steffens sagt, dass er noch immer von einer einfachen Vergiftung ausgeht und dass diese Untersuchung jetzt nicht mehr ist als ein Schuss ins Blaue. Dass die meisten großen Entdeckungen aber nicht gemacht worden wären, wenn nicht irgendwer einen Schuss ins Blaue abgefeuert hätte.«
»Da kann er recht haben. Die Disputation ist um zwei Uhr. Anschließend gibt es noch einen Empfang, auf den ihr gehen könnt. Ich werde den aber wohl auslassen.«
»Bestimmt«, sagte Oleg lächelnd und drehte sich zu Jesus. »Harry mag keine Menschen, weißt du.«
»Ich mag Menschen«, sagte Harry. »Ich mag es nur nicht, mit ihnen zusammen zu sein. Besonders dann nicht, wenn so viele auf einem Haufen sind.« Er sah wieder auf die Uhr. »Apropos.«
»Sorry, ich bin spät, hatte noch eine Privatvorlesung«, sagte Harry und schob sich hinter den Tresen.
Øystein stöhnte, während er zwei frisch gezapfte Bier auf den Tresen knallte, so dass der Schaum überlief. »Harry, wir brauchen hier mehr Leute.«
Harry blinzelte in die Menschenmenge, die sich in der Kneipe drängelte. »Ich finde, es sind jetzt schon zu viele.«
»Ich meine auf dieser Seite des Tresens, du Brot.«
»Das Brot hustet dir gleich was. Kennst du irgendwen mit einem guten Musikgeschmack?«
»Holzschuh.«
»Der ja kein Autist ist.«
»Nein.« Øystein zapfte das nächste Bier und signalisierte Harry, dass er sich um die Kasse kümmern solle.
»Okay, lass uns darüber nachdenken. Hallstein war hier?« Harry zeigte auf die St.-Pauli-Mütze, die auf einem großen Bierglas neben dem Galatasaray-Wimpel prangte.
»Ja, er hat sich noch mal dafür bedankt, dass er die ausleihen durfte. Er hatte ein paar ausländische Journalisten dabei, die den Ort sehen wollten, an dem das alles losgegangen ist. Angeblich hat er übermorgen irgend so eine Doktorsache.«
»Disputation.« Harry gab einem Kunden die Kreditkarte zurück und bedankte sich.
»Ja. Da ist übrigens so ein Typ zu denen gegangen, den Smith dann als Kollegen aus dem Morddezernat vorgestellt hat.«
»Oh«, sagte Harry und nahm die nächste Bestellung von einem Typ mit Hipsterbart und Cage-the-Elephant-T-Shirt entgegen. »Wie sah er aus?«
»Zähne«, sagte Øystein und zeigte auf seine eigene Reihe brauner Stummel.
»Doch nicht Truls Berntsen, oder?«
»Keine Ahnung, wie der geheißen hat, aber ich habe ihn hier schon ein paarmal gesehen. Er sitzt immer da hinten in der Nische und kommt allein.«
»Bestimmt Truls Berntsen.«
»Die Frauen scharen sich immer um ihn.«
»Nicht Truls Berntsen.«
»Und trotzdem geht er allein nach Hause. Komischer Kauz.«
»Weil er keine Frau mit nach Hause nimmt?«
»Würdest du jemandem vertrauen, der so einen Gratis-Fick ablehnt?«
Der Hipsterbart zog eine Augenbraue hoch. Harry zuckte mit den Schultern, reichte ihm das Bier, ging zum Spiegelregal und setzte sich die St.-Pauli-Mütze auf. Er wollte sich gerade wieder umdrehen, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Er sah sich selbst im Spiegel. Den Totenkopf tief in der Stirn.
»Harry?«
»Hm.«
»Kannst du hier helfen? Zwei Mojitos mit Sprite Light.«
Harry nickte langsam. Dann nahm er die Mütze ab und ging um den Tresen herum zum Ausgang.
»Harry!«
»Ruf Holzschuh an!«
»Ja?«
»Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe, ich habe nicht wirklich damit gerechnet, noch jemanden zu erreichen.«
»Wir haben auch geschlossen, aber so ist das halt, wenn man irgendwo mit systematischer Unterbesetzung arbeitet. Sie rufen über eine interne Nummer an, die nur der Polizei zur Verfügung steht.«
»Ja, ich bin Harry Hole, Hauptkommissar am …«
»Ich habe schon von dir gehört, Harry. Ich bin’s, Paula, und Hauptkommissar bist du schon lange nicht mehr.«
»Ach, du bist’s, Paula. Nun, ich sitze noch immer an diesem Vampiristenfall. Kannst du noch einmal die Treffer überprüfen, die wir an dieser Wasserleitung hatten?«
»Ich habe da zwar nicht mitgearbeitet, aber ich kann nachschauen. Du bist dir aber hoffentlich im Klaren darüber, dass ich außer Valentin Gjertsen keine Namen habe. Die anderen DNA-Profile des Vampiristenfalls sind nur mit Nummern ausgewiesen.«
»Das ist schon in Ordnung. Ich hab eine Liste mit den Namen und Nummern aller Tatorte vor mir, also leg los.«
Harry hakte ab, während Paula ihm die DNA-Profile durchgab, die sie gefunden hatten. Dorfpolizist, dessen Assistent, Hole, Smith, Holm und einer seiner Kriminaltechniker. Und dann noch die siebte Person.
»Bei der letzten gibt es noch immer keinen Treffer?«, fragte Harry.
»Nein.«
»Was ist mit dem Rest des Hauses von Hell, ist da DNA-Material von Valentin gefunden worden?«
»Lass mal sehen … nein, sieht nicht so aus.«
»Weder auf der Matratze noch auf der Leiche? Keine Verbindung, nichts …«
»Nope.«
»Okay, Paula, danke.«
»Apropos Verbindung, konntest du eigentlich herausfinden, was das mit diesem Haar auf sich hatte?«
»Was für ein Haar?«
»Diese Sache im Herbst. Kommissar Wyller war mit einem Haar bei mir, das er analysieren lassen wollte. Er meinte wohl, wir würden der Sache Priorität einräumen, weil er deinen Namen genannt hat.«
»Und das habt ihr doch wohl …«
»Natürlich, Harry, du weißt doch, dass alle Frauen hier oben eine Schwäche für dich haben.«
»Sagt man so etwas nicht zu sehr alten Männern?«
Paula lachte. »So ist das halt, wenn man heiratet, Harry. Selbsterwählte Kastration.«
»Hm. Ich hatte das Haar auf dem Boden im Ullevål-Krankenhaus gefunden, im Zimmer, wo meine Frau gelegen hat. Da war ich wohl ein wenig paranoid.«
»Na dann. Ich gehe mal davon aus, dass es nicht wichtig war, da Wyller mich später gebeten hat, die Sache zu vergessen. Hattest du Angst, deine Frau könnte einen Lover haben?«