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Der Geruch, der ihm im Treppenhaus entgegenschlug, war noch so wie früher. Küchendünste aus Norwegen und Pakistan, vermischt mit dem süßlichen Gestank der alten Sennheim, die im Erdgeschoss wohnte. Harry lauschte der Stille. Dann schlich er die Treppe hoch und vermied automatisch die sechste Stufe, von der er wusste, dass sie knirschte.

Vor der Tür im ersten Stock blieb er stehen.

Hinter dem matten Türglas war kein Licht zu erkennen.

Harry klopfte an. Wartete. Betrachtete das Schloss. Wusste, dass es kein Hexenwerk war, es aufzubrechen. Eine steife Plastikkarte und ein kräftiger Druck. Bei dem Gedanken schlug sein Herz schneller. Die Scheibe vor ihm beschlug. Hatte auch Valentin eine zittrige Anspannung verspürt, wenn er bei seinen Opfern eingebrochen war?

Harry klopfte noch einmal an. Wartete. Gab es auf und war schon im Gehen begriffen, als er hinter der Tür Schritte hörte. Er drehte sich um und sah einen Schatten hinter dem Glas. Die Tür ging auf.

Anders Wyller trug eine Jeans, war ansonsten aber nackt und unrasiert. Trotzdem sah er nicht so aus, als wäre er gerade erst aufgewacht. Im Gegenteil, seine Pupillen waren schwarz, geweitet und die Stirn voller Schweiß. An seiner Schulter bemerkte Harry etwas Rotes, das wie eine Verletzung aussah. Auf jeden Fall war da Blut.

»Harry«, sagte Wyller. »Was machst du denn hier?« Seine Stimme klang anders als sonst. Das Helle, Jugendliche war weg. »Und wie bist du ins Haus gekommen?«

Harry räusperte sich. »Wir brauchen die Seriennummer von Valentins Revolver. Ich habe geklingelt.«

»Und?«

»Du hast nicht aufgemacht. Ich dachte, dass du vielleicht schläfst, und bin ins Haus gegangen. Ich habe früher mal hier in diesem Haus gewohnt. In der Etage über dir. Ich weiß deshalb, wie leise die Klingel ist.«

»Ja«, sagte Wyller, streckte sich und gähnte.

»Also«, sagte Harry. »Hast du sie?«

»Wen?«

»Die Redhawk. Den Revolver?«

»Ach den, ja. Die Seriennummer? Warte einen Moment.«

Wyller lehnte die Tür an, und Harry sah ihn durch das Glas im Flur verschwinden. Da alle Wohnungen im Haus denselben Schnitt hatten, wusste er, dass Wyller in Richtung Schlafzimmer ging. Dann kam er dort wieder raus, verschwand aber noch einmal im Wohnzimmer.

Harry drückte die Tür auf. Trat ein. Roch so etwas wie Parfüm und sah, dass die Tür zum Schlafzimmer zu war. Vermutlich hatte Wyller sie gerade geschlossen. Harry hielt automatisch im Flur nach Kleidung oder Schuhen Ausschau, die ihm irgend­etwas sagen konnten, aber es war nichts zu sehen. Lauschend warf er einen Blick in Richtung Schlafzimmer, bevor er lautlos mit drei schnellen Schritten im Wohnzimmer war. Anders Wyller hatte ihn nicht gehört. Er drehte Harry den Rücken zu, kniete vor dem Wohnzimmertisch und notierte etwas auf einem Block. Vor ihm lag der große Revolver mit dem rotbraunen Schaft, daneben stand ein Teller mit einem Stück Pizza. Peperoni. Die Handschellen und die Eisenzähne waren nirgends zu sehen.

In einer Ecke des Raums stand ein leerer Käfig. Wie ihn Leute für Kaninchen nutzten. Oder Moment. Harry erinnerte sich, dass Wyller etwas von einer Katze gesagt hatte, als Skarre ihn wegen des Lecks angemacht hatte. Aber wo war die Katze? Und hielt man Katzen im Käfig? Harrys Blick wanderte weiter zur Schmalseite des Raumes, an der ein Regal mit Lehrbüchern von der Polizeihochschule stand. Er erkannte Bjerknes’ und Hoff ­Johansens Buch über Ermittlungsmethoden, aber auch ein paar Bücher, die nicht prüfungsrelevant waren, wie Ressler, Burgess und Douglas, Sexual Homicide – Patterns and Motives, ein Buch über Serienmorde, über das Harry erst kürzlich in einer Vorlesung gesprochen hatte, weil es Informationen über das gerade erst vom FBI entwickelte Vicap-Programm enthielt. Harry ließ seinen Blick weiter über das Regal schweifen. Ein Familienbild, zwei Erwachsene und Anders Wyller als Junge, darunter: Haematology at a Glance. Atul B. Mehta, A. Victor Hoffbrand. Und Grundlagen der Hämatologie von John D. Steffens. Ein junger Mann, der sich für Blutkrankheiten interessierte. Warum nicht? Harry trat näher und warf einen Blick auf das Familienfoto. Der Junge sah glücklich aus. Die Eltern weniger.

»Warum hast du dir Valentins Sachen aus der Asservatenkammer geholt?«, fragte Harry und sah Wyllers Rücken erstarren. »Katrine Bratt hat dich nicht darum gebeten. Eigentlich nimmt man kein Beweismaterial mit nach Hause. Auch nicht bei gelösten Fällen.«

Wyller drehte sich um, und Harry sah, dass sein Blick automatisch nach rechts in Richtung Schlafzimmer zuckte.

»Ich bin Ermittler im Dezernat für Gewaltverbrechen und du Dozent an der Polizeihochschule, Harry. Streng genommen sollte ich also dich fragen, was du mit der Seriennummer willst.«

Harry musterte Wyller. Realisierte, dass er keine Antwort bekommen würde. »Die Seriennummer wurde nie analysiert. Über den früheren Besitzer wissen wir nichts. Und das war ja mal eindeutig nicht Valentin, er hatte nämlich gar keinen Waffenschein.«

»Ist das so wichtig?«

»Findest du nicht?«

Wyller zuckte mit den nackten Schultern. »Mit dem Revolver ist, soweit wir wissen, niemand erschossen worden, nicht einmal Marte Ruud. Die Obduktion hat ja ergeben, dass sie schon tot war, als auf sie geschossen wurde. Wir haben die ballistischen Daten von dem Revolver, und die sind noch bei keiner Straftat aufgetaucht, die wir in der Datenbank haben. Ehrlich, ich finde es nicht wesentlich, die Seriennummer zu überprüfen, nicht solange es andere, wichtigere Dinge gibt, die untersucht werden sollten.«

»Nun«, sagte Harry. »Dann kann ja vielleicht der Dozent mal schauen, wohin das mit der Seriennummer führt.«

»Nur zu«, sagte Wyller, riss den Zettel vom Block und reichte ihn Harry.

»Danke«, sagte Harry und starrte auf das Blut auf Wyllers Schulter.

Wyller begleitete ihn zur Tür, und als Harry sich auf dem Treppenabsatz noch einmal umdrehte, sah er, dass Wyller sich wie ein Türsteher unbewusst breitmachte.

»Nur aus Neugier«, sagte Harry. »Der Käfig im Wohnzimmer. Was hast du da drin?«

Wyller blinzelte ein paarmal. »Nichts«, sagte er und schloss leise die Tür.

»War er da?«, fragte Bjørn und fuhr wieder auf die Straße.

»Ja«, sagte Harry. »Und hier ist die Seriennummer. Die Ruger ist eine amerikanische Waffe. Versuch mal, über das ATF was rauszukriegen.«

»Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass du die Herkunft dieses Revolvers ermitteln kannst?«

»Warum nicht?«

»Weil die Amerikaner ziemlich nachlässig bei der Registrierung von Schusswaffen sind. Und in den USA sind mehr als dreihundert Millionen Waffen im Umlauf. Also mehr, als es da Menschen gibt.«

»Erschreckend.«

»Was wirklich erschreckend ist«, sagte Bjørn Holm und tippte das Gaspedal kurz an, so dass sie kontrolliert auf die Pilestredet rutschten, »ist, dass auch diejenigen, die nicht kriminell sind und angeblich nur Waffen haben, um sich verteidigen zu können, damit ständig die falschen Leute umbringen. In der Los Angeles Times stand, dass 2012 in den USA mehr Menschen durch Schießunfälle umgekommen sind als durch gezielte Schüsse aus Notwehr. Und fast vierzig Mal so viele haben sich selbst erschossen. Und keine dieser Zahlen taucht in der Mordstatistik auf.«

»Du liest die Los Angeles Times

»Ich habe früher häufiger die Musik-Artikel von Robert Hilburn gelesen, als er noch da war. Hast du seine Johnny-Cash-Biographie gelesen?«

»Nee. Hilburn? Ist das nicht der, der über die Sex-Pistols-Tournee in den USA geschrieben hat?«

»Genau.«

Sie hielten bei Rot vor dem Blitz, dem früheren Aushängeschild der norwegischen Punkbewegung. Auch heute war dort hin und wieder noch ein Irokesenschnitt zu sehen. Bjørn Holm grinste Harry breit an. Er war glücklich. Glücklich, Vater zu werden, glücklich, dass der Vampiristenfall erledigt war, und glücklich, in einem Auto zu sitzen, das nach den Siebzigern roch, und über Musik zu reden, die fast genauso alt war.