»Er würde das wirklich sehr zu schätzen wissen«, sagte Oleg.
Steffens musterte den jungen Mann und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Sie wollen also Ihr Blut gegen meine Zeit tauschen?«
»So in der Art, ja«, sagte Oleg.
Steffens lehnte sich im Stuhl nach hinten und legte die Hände vor dem Mund zusammen. »Sagen Sie mir eins, Oleg. Wie kommt es, dass Sie eine so enge Verbindung zu Harry Hole haben? Er ist ja nicht einmal Ihr biologischer Vater.«
»Tja.«
»Antworten Sie mir darauf, und geben Sie mir Ihr Blut, dann fahre ich mit zu dieser Disputation.«
Oleg dachte nach. »Spontan würde ich sagen, weil er ehrlich ist. Dass ich, auch wenn er wirklich nicht der beste Vater der Welt ist, auf das vertrauen kann, was er sagt. Aber ich glaube, das ist nicht das Wichtigste.«
»Was dann?«
»Dass wir die gleichen Bands hassen.«
»Dass Sie was?«
»Musik. Wir mögen nicht das Gleiche, aber wir hassen dasselbe.«
Oleg zog seine Daunenjacke aus und krempelte den Ärmel seines Hemdes hoch.
»Bereit?«
Kapitel 41
Freitagvormittag
Rakel sah zu Harry auf, als sie Arm in Arm über den Universitätsplatz zum Domus Academica gingen, einem der drei Gebäude der Universität in der Osloer Innenstadt. Sie hatte ihn überredet, die Lederschuhe anzuziehen, die sie ihm in London gekauft hatte, obwohl sie seiner Meinung nach bei dem eisigen Untergrund zu glatt waren.
»Du solltest öfter einen Anzug tragen«, sagte sie.
»Und die Kommune öfter streuen«, konterte Harry und tat so, als würde er wieder ausrutschen.
Sie hielt ihn lachend fest. Spürte die Pappe der gelben Mappe, die er sich unter das Sakko gesteckt hatte. »Ist das da nicht Bjørns Auto, da darf er aber nun wirklich nicht parken, oder?«
Sie gingen an dem schwarzen Amazon vorbei, der unmittelbar vor der Treppe auf dem Platz stand.
»Polizeischild hinter der Windschutzscheibe«, sagte Harry. »Klarer Fall von Amtsanmaßung.«
»Das ist bestimmt wegen Katrine«, sagte Rakel lächelnd. »Er hat Angst, sie könnte fallen.«
Der Vorraum des alten Festsaals war von Stimmengewirr erfüllt. Rakel hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau, aber bei den meisten schien es sich um Wissenschaftler oder Smiths Familie zu handeln. In einer Ecke des Raums entdeckte sie dann aber doch jemanden, den sie kannte. Truls Berntsen. Er schien nicht zu wissen, dass man bei einer Disputation einen Anzug trug. Rakel bahnte sich und Harry einen Weg zu Bjørn und Katrine.
»Gratuliere, ihr zwei!«, sagte Rakel und nahm beide in den Arm.
»Danke!«, antwortete Katrine strahlend und strich sich über den runden Bauch.
»Wann ist es so weit?«
»Im Juni.«
»Juni«, wiederholte Rakel und sah das Zucken in Katrines Lächeln.
Rakel beugte sich vor, legte Katrine die Hand auf den Arm und flüsterte: »Denk nicht dran, das geht alles gut.«
Rakel sah, wie Katrine sie beinahe schockiert anstarrte.
»PDA«, fuhr Rakel fort. »Eine phantastische Erfindung. Die Schmerzen sind … schwupps, weg.«
Katrine blinzelte zweimal. Dann lachte sie laut.
»Ich war noch nie vorher bei einer Disputation. Ich wusste nicht, dass das so feierlich ist, bis ich gesehen habe, dass Bjørn seinen besten Schlips anzieht. Was passiert hier eigentlich?«
»Oh, das ist im Grunde ganz einfach«, sagte Rakel. »Wir gehen in den Saal und stehen auf, wenn die Prüfer und der Doktorand hereinkommen. Smith ist sicher selbst total gespannt, obwohl er gestern oder heut früh schon eine Probevorlesung gehalten hat. Am meisten fürchtet er bestimmt, von Ståle Aune in die Mangel genommen zu werden, aber dafür gibt es heute wohl keinen Grund.«
»Nicht?«, fragte Bjørn Holm. »Aune hat aber gesagt, dass er nicht an Vampirismus glaubt.«
»Ståle glaubt an seriöse Forschung«, sagte Rakel. »Die Prüfer sollen kritisch zum Kern der Doktorarbeit vordringen, sie müssen aber innerhalb des Rahmens und der Prämisse der Arbeit bleiben und dürfen keinen eigenen Ideen folgen.«
»Oha, hast du dir das alles angelesen?«, fragte Katrine, als Rakel Luft holte. Rakel nickte lächelnd und fuhr fort: »Die Prüfer haben jeweils fünfundvierzig Minuten, dazwischen ist für kurze Fragen aus dem Publikum Raum. Man nennt das ex auditorio, es kommt aber selten vor, dass jemand etwas fragt. Danach folgt dann das Disputationsessen, das der Doktorand zahlt und zu dem wir nicht eingeladen sind. Harry findet das sehr schade.«
Katrine wandte sich an Harry. »Stimmt das?«
Harry zuckte mit den Schultern. »So ein bisschen Fleisch mit Sauce, begleitet von langen Reden diverser Verwandter über Leute, die man eigentlich nicht kennt, da stehen wir doch alle drauf.«
In die wartende Menge kam Bewegung, und ein paar Blitzlichter leuchteten auf.
»Der angehende Herr Justizminister«, sagte Katrine.
Es war beinahe so, als teilte sich das Wasser vor Mikael und Ulla Bellman, die Arm in Arm durch den Raum schritten. Ulla Bellmans Lächeln wirkte aufgesetzt. Rakel hatte sie eigentlich noch nie richtig lächeln sehen. Vielleicht war sie einfach nicht der Typ dafür. Oder sie war eines dieser hübschen, schüchternen Mädchen gewesen, die früh gelernt hatten, dass übertriebenes Lächeln nur zu noch mehr unerwünschter Aufmerksamkeit führte, während kühle Distanziertheit ihnen das Leben leichter machte. Was sie jetzt wohl über ein Leben an der Seite eines Ministers dachte?
Mikael Bellman blieb stehen, als eine Frage gerufen und ihm ein Mikrofon unter die Nase gehalten wurde.
»Oh, I’m here just to celebrate one of the men who contributed to us solving the Vampyrist case«, sagte er. »Doctor Smith is the one you should be talking to today, not me.« Aber Bellman gehorchte und posierte freiwillig, als die Fotografen ihre Wünsche äußerten.
»Puh, internationale Presse«, sagte Bjørn.
»Vampirismus ist hot«, sagte Katrine und ließ den Blick über die Menge schweifen. »Alle Kriminaljournalisten sind hier.«
»Abgesehen von Mona Daa«, sagte Harry, während er die Menge scannte.
»Und die Heizungsraum-Guerilla, außer Anders Wyller. Wisst ihr, wo er steckt?«
Die anderen schüttelten den Kopf.
»Er hat mich heute früh angerufen«, sagte Katrine. »Und um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten.«
»Über was?«, fragte Bjørn.
»Das wissen die Götter, aber guckt mal, da kommt er ja.«
Anders Wyller war gerade zu der wartenden Menge gestoßen und nahm sich den Schal ab. Sein roter Kopf deutete darauf hin, dass er sich beeilt haben musste. Im gleichen Moment öffneten sich die Türen des Saals.
»So, dann suchen wir uns mal einen Platz«, sagte Katrine und eilte zur Tür. »Aus dem Weg, Leute, lasst eine Schwangere durch.«
»Sie ist so süß!«, flüsterte Rakel, hakte sich bei Harry ein und lehnte sich an ihn. »Ich habe mich immer gefragt, ob da nicht mal was zwischen euch war.«
»Was?«
»Irgendwas. Als wir nicht zusammen waren, zum Beispiel.«
»Leider nein«, sagte Harry düster.
»Leider nein? Wie leider nein?«
»Wie dass ich schon manchmal denke, dass ich unsere Pausen besser hätte nützen können.«
»Ich mache keine Witze, Harry.«
»Ich auch nicht.«
Hallstein Smith hatte die Tür zu dem ehrwürdigen Saal einen Spaltbreit geöffnet und warf verstohlen einen Blick hinein.
Auf den Kronleuchter, der über den Menschen hing, die die Reihen füllten. Einige mussten sich sogar oben auf der Galerie mit Stehplätzen zufriedengeben. Früher hatte hier einmal das Parlament getagt, und jetzt sollte er – der kleine Hallstein – am Rednerpult stehen, seine Forschung verteidigen und zum Doktor ernannt werden! Er sah zu May hinüber, die in der ersten Reihe saß. Auch sie war nervös – und platzte beinahe vor Stolz. Dann ging sein Blick zu den ausländischen Kollegen, die extra angereist waren, obgleich er sie gewarnt hatte, dass die Disputation auf Norwegisch sein würde. Zu den Journalisten, zu Bellman, der gemeinsam mit seiner Frau ganz vorn saß. Zu Harry, Bjørn und Katrine, seinen neuen Freunden bei der Polizei, die auch für seine Arbeit, die zu weiten Teilen auf dem Fall Valentin Gjertsen aufbaute, eine wichtige Rolle gespielt hatten. Das Bild von Valentin hatte sich durch die Erkenntnisse der letzten Tage dramatisch geändert, seine Schlussfolgerungen über die Persönlichkeit eines Vampiristen waren dadurch aber nur noch schlüssiger geworden. Hallstein hatte ja selbst immer darauf hingewiesen, dass Vampiristen primär im Affekt handelten, von Lust und Impulsen gesteuert wurden. Die Entlarvung von Lenny Hell als eigentlichem Hirn hinter den wohlorganisierten Morden war somit exakt zur rechten Zeit gekommen.