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»Dann fangen wir an«, sagte der Dekan in seiner Rolle als Vorsitzender der Prüfungskommission und fegte sich ein Staubkorn vom Talar.

Hallstein holte tief Luft, trat ein, und der Saal erhob sich.

Smith und die beiden Prüfer setzten sich, während der Vorsitzende ans Rednerpult trat und über den Ablauf der Prüfung informierte. Dann gab er Hallstein das Wort.

Der erste Prüfer, Ståle Aune, beugte sich vor und wünschte ihm flüsternd Glück.

Hallstein trat ans Rednerpult, drehte sich um und sah in den Saal. Spürte die Stille, die eintrat. Die Probevorlesung am Morgen war gut verlaufen. Gut? Geradezu phantastisch! Es war ihm nicht entgangen, wie die Prüfungskommission gestrahlt hatte, sogar Ståle Aune hatte an den entscheidenden Stellen seines Vortrags anerkennend genickt.

Jetzt sollte eine kürzere Variante seiner Vorlesung folgen, maximal zwanzig Minuten. Hallstein begann zu sprechen, bekam rasch dasselbe Gefühl wie am Morgen und sah kaum noch auf das Manuskript, das vor ihm lag. Seine Gedanken wurden zu Worten, und mit einem Mal war es so, als sähe er als Zuschauer, wie ihm das Publikum an den Lippen hing. Alle konzentrierten sich auf ihn, auf Hallstein Smith, den Professor für Vampirismus. Natürlich gab es so etwas nicht, aber das würde er ändern, mit dem heutigen Tag. Er näherte sich dem Schluss. »Während meiner kurzen Zeit in der Ermittlergruppe von Harry Hole habe ich ein paar Sachen gelernt. Eine davon war, dass eine der zen­tralen Fragen bei Mordfällen das ›Warum‹ ist. Dass es aber nicht hilft, diese Frage zu beantworten, wenn man nicht auch eine Antwort auf das ›Wie‹ hat.« Hallstein trat zu dem Tisch neben dem Rednerpult, auf dem drei Gegenstände lagen, die von einem Seidentuch bedeckt waren. Er nahm einen Zipfel des Tuchs und wartete. Ein bisschen Theater musste sein.

»Die Antwort auf das ›Wie‹ ist hier«, proklamierte er und zog das Tuch weg.

Ein Raunen ging durch die Gruppe der Anwesenden, als sie den großen Revolver sahen, die grotesk massiven Handschellen und die schwarzen Eisenzähne.

Er zeigte auf den Revolver. »Ein Werkzeug, um zu bedrohen und zu bezwingen.«

Auf die Handschellen. »Eines, um zu kontrollieren, zu sichern, gefangen zu halten.«

Die Eisenzähne. »Und eines, um an die Quelle zu gelangen, um an das Blut zu kommen und das Ritual auszuführen.«

Er hob den Blick. »Mein Dank geht an Ermittler Anders Wyller, der mir diese Objekte ausgeliehen hat, damit ich zeigen kann, was ich meine. Sie beantworten nicht nur die drei ›Wie‹, sondern auch das ›Warum‹. Aber wie kann ein ›Wie‹ ein ›Warum‹ beantworten?«

Vereinzeltes, verkrampftes Auflachen aus dem Saal.

»All diese Gegenstände sind alt. Unnötig alt, möchte man vielleicht sagen. Der Vampirist hat sich die Mühe gemacht, sich Gegenstände oder Kopien von Gegenständen aus bestimmten Epochen zu besorgen. Dieser Punkt unterstreicht, was ich in meiner Arbeit über die Wichtigkeit des Rituals geschrieben habe. Das Trinken von Blut reicht zurück in eine Zeit, in der es noch viele Götter gab, die angebetet und befriedigt werden mussten. Die dafür gängige Währung war Blut.«

Er zeigte auf den Revolver. »Diese Spur führt in das Amerika von vor zweihundert Jahren, als es Indianerstämme gab, die das Blut ihrer Feinde tranken, um deren Kräfte in sich aufzu­nehmen.« Er zeigte auf die Handschellen. »Eine Verbindung ins Mittelalter, als Hexen und Zauberer gefangen, beschworen und rituell verbrannt wurden.« Er zeigte auf die Zähne. »Und eine Verbindung in die Antike, als Opferlämmer und der Aderlass von Menschen weit verbreitet waren, um die Götter zu besänf­tigen. Wie ich mit meinen heutigen Antworten hoffe«, er deutete auf den Vorsitzenden und die Prüfer, »diese Götter besänftigen zu können.«

Dieses Mal klang das Lachen aufrichtiger.

»Danke.«

Der Applaus war, soweit Hallstein das beurteilen konnte, frenetisch.

Ståle Aune erhob sich, rückte seine gepunktete Fliege zurecht, streckte seinen Bauch weit nach vorne und marschierte ans Rednerpult.

»Verehrter Doktorand, Ihre Doktorarbeit basiert auf Fallstudien, und ich frage mich, wie Sie zu Ihren Schlussfolgerungen gelangen konnten, wenn Ihr Hauptfall – Valentin Gjertsen – diese Schlussfolgerungen doch gar nicht zuließ. Bis Lenny Hells Rolle bekannt wurde.«

Hallstein Smith räusperte sich. »In der Psychologie gibt es mehr Raum für Interpretationen als in den meisten anderen Wissenschaften. Und es war natürlich verlockend, Valentin Gjertsens Verhalten innerhalb des Rahmens zu beschreiben, den ich als typisch für Vampiristen dargelegt habe. Aber als Wissenschaftler muss ich ehrlich sein. Bis noch vor wenigen Tagen passte Valentin Gjertsen nicht wirklich zu meiner Theorie. Und auch wenn in der Psychologie nie alles nach Lehrbuch verlaufen wird, muss ich an dieser Stelle eingestehen, dass mich das zutiefst frustriert hat. Es ist natürlich schwierig, sich über die Tragödie Lenny Hell zu freuen. Aber sie bestätigt die in meiner Abhandlung aufgestellten Theorien und ermöglicht damit ein klareres Bild und ein präziseres Verständnis von Vampiristen, was uns hoffentlich hilft, zukünftige Tragödien zu verhindern, denn es muss darum gehen, Vampiristen bereits frühzeitig aufzuhalten.« Hallstein räusperte sich. »Ich danke der Prüfungskommission, die nur meine ursprüngliche Abhandlung hätte bewerten müssen, mir aber die Gelegenheit gab, die Änderungen einzuarbeiten, die infolge der Entlarvung von Hell notwendig waren. Auch dadurch ist letzten Endes alles vollkommen schlüssig geworden …«

Als der Dekan diskret signalisierte, dass die Zeit des ersten Prüfers zu Ende ging, hatte Hallstein das Gefühl, dass gerade erst fünf Minuten vergangen waren und nicht fünfundvierzig. Alles lief wie am Schnürchen.

Schließlich trat der Dekan selbst ans Rednerpult und kündigte die Pause an, in der jetzt Fragen ex auditorio angemeldet werden konnten. Hallstein konnte es kaum abwarten, ihnen allen seine phantastische Arbeit zu erklären, die in all ihrem Grauen letztendlich ja doch vom Schönsten und Größten handelte, das es gab: dem Geist des Menschen.

Hallstein nutzte die Pause, um sich in der Eingangshalle unter die Leute zu mischen und alle zu begrüßen, die nicht zum Essen eingeladen waren. Er sah Harry Hole mit einer dunkelhaarigen Frau zusammenstehen und ging zu ihnen.

»Harry!«, sagte er und drückte die Hand des Polizisten. Sie war hart und kalt wie Marmor. »Und das muss Rakel sein?«

»So ist es«, sagte Harry.

Hallstein nahm ihre Hand und bemerkte, dass Harry auf die Uhr und dann zum Eingang sah.

»Warten wir noch auf jemanden?«

»Ja«, sagte Harry. »Und da sind sie auch schon.«

Hallstein sah zwei Personen hereinkommen. Ein großgewachsener, dunkel wirkender junger Mann und ein Mann, vermutlich in den Fünfzigern, mit blonden Haaren und einer kleinen, rahmenlosen Brille mit rechteckigen Gläsern. Es schien ihm, als ähnelte der junge Mann Rakel, aber auch der andere kam ihm vage bekannt vor.

»Wo habe ich den Mann mit der Brille schon mal gesehen?«, fragte Hallstein.

»Das weiß ich nicht, aber das ist der Hämatologe Dr. John D. Steffens.«

»Und was macht der hier?«

Hallstein sah Harry tief einatmen. »Er ist hier, um einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen. Er weiß es nur noch nicht.«