Im selben Augenblick läutete der Dekan eine Glocke und bat mit lauter Stimme, dass bitte alle wieder ihre Plätze einnehmen sollten.
John D. Steffens schob sich, gefolgt von Oleg Fauke, zwischen zwei Bankreihen hindurch und ließ seinen Blick auf der Suche nach Harry Hole über die Anwesenden gleiten. Sein Herz blieb für eine Sekunde stehen, als er den jungen blonden Mann in der hintersten Reihe erblickte. Als Anders Steffens sah, weiteten seine Augen sich vor Entsetzen. Steffens drehte sich zu Oleg um. Er wollte sagen, dass er einen Termin vollkommen vergessen habe und nun doch gehen müsse.
»Ich weiß«, kam Oleg ihm zuvor und machte keine Anstalten, ihn durchzulassen. Steffens wurde in diesem Moment bewusst, dass der Junge fast so groß wie sein Stiefvater, Hole, war. »Jetzt lassen wir das seinen Gang gehen, Steffens.«
Der junge Mann legte seine Hand auf Steffens’ Schulter, und der Arzt hatte irgendwie das Gefühl, als würde er mit aller Macht in einen Sitz gedrückt. Steffens setzte sich und spürte, wie sein Puls sich langsam beruhigte. Würde. Ja, Würde. Oleg Fauke wusste Bescheid. Was nur bedeuten konnte, dass auch Harry Hole Bescheid wusste und dass die beiden ihm ganz bewusst keine Möglichkeit zum Rückzug gelassen hatten. Aus Anders’ Reaktion war klar zu entnehmen gewesen, dass auch er nichts davon gewusst hatte. Sie waren überlistet worden. Ausgetrickst, um beide hier zu sein. Aber was jetzt?
Katrine Bratt setzte sich zwischen Harry und Bjørn, als der Dekan ans Rednerpult trat und den zweiten Teil eröffnete.
»Der Doktorand hat Fragen ex auditorio erhalten, wenn ich Sie bitten dürfte, Harry Hole.«
Katrine sah erstaunt zu Harry, der sich erhob. »Danke.«
Sie nahm die überraschten Blicke der anderen wahr. Einige lächelten, als erwarteten sie einen Spaß. Auch Hallstein Smith schien sich zu amüsieren, als er das Rednerpult übernahm.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Harry. »Du bist kurz vor deinem großen Ziel, und ich möchte dir für deinen Beitrag zum Vampiristenfall danken.«
»Ich bin es, der zu Dank verpflichtet ist«, sagte Smith mit leichter Verbeugung.
»Ja, vielleicht«, sagte Harry. »Denn wir haben ja den Puppenspieler gefunden, der Valentin gesteuert hat. Worauf, wie Ståle ja bereits erwähnt hat, deine ganze Doktorarbeit beruht. In dem Punkt hast du also Glück gehabt.«
»Das habe ich, ja.«
»Es gibt aber ein paar andere Fragen, auf die wir alle, wie ich glaube, Antworten möchten.«
»Ich werde mein Bestes tun, Harry.«
»Ich erinnere mich an die Aufnahme von Valentin, als er bei dir in den Stall ging. Er wusste genau, wohin er musste, nur von der Waage hinter der Tür hatte er keine Ahnung. Er hat das Gebäude ohne jedes Zögern betreten, war sich sicher, festen Boden unter den Füßen zu haben. Und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Warum war das so?«
»Wir setzen manche Sache als gegeben voraus«, sagte Smith. »In der Psychologie sprechen wir in diesem Zusammenhang vom Rationalisieren, das heißt, wir vereinfachen. Ohne Rationalisierung wäre unsere Welt kaum zu handhaben, unser Hirn wäre überlastet von all den möglichen Unsicherheiten, die wir berücksichtigen müssen.«
»Deshalb gehen wir auch im Dunkeln eine Kellertreppe hinunter, ohne uns Sorgen zu machen oder zu fürchten, wir könnten uns den Kopf an einer Wasserleitung stoßen.«
»Genau.«
»Und wenn es uns doch einmal passiert ist, erinnern wir uns – auf jeden Fall die meisten von uns – beim nächsten Mal daran. Deshalb ist Katrine Bratt schon beim zweiten Mal, als sie bei dir im Stall war, mit aller Vorsicht auf die Waage getreten. Und deshalb ist es auch nicht seltsam, dass wir auch von dir Haut und Blut an der Wasserleitung in Hells Keller gefunden haben, nicht aber von Lenny Hell. Er hatte schon als Kind gelernt, wo er den Kopf einziehen musste. Sonst hätten wir Hells DNA gefunden, denn solche Spuren sind noch Jahre später nachweisbar, wenn sie erst einmal an einer solchen Wasserleitung sind.«
»Das mag stimmen, Harry.«
»Ich komme noch darauf zurück, reden wir zuerst darüber, was wirklich seltsam ist.«
Katrine richtete sich auf. Sie wusste noch immer nicht, was das sollte, aber sie kannte Harry und bemerkte das kaum hörbare, niederfrequente Brummen in seiner Stimme.
»Als Valentin Gjertsen gegen Mitternacht den Stall betritt, wiegt er 74,7 Kilo«, sagte Harry. »Als er ihn wieder verlässt, zeigt die Waage auf der Videoaufnahme 73,2 Kilo an, also exakt anderthalb Kilo weniger.« Harry breitete die Arme aus. »Auf der Hand lag natürlich die Erklärung, dass dieser Gewichtsunterschied durch den Blutverlust in deinem Büro zu erklären ist.«
Katrine hörte das diskrete, aber ungeduldige Räuspern des Dekans.
»Aber dann ist mir eine Sache in den Sinn gekommen«, sagte Harry. »Wir hatten ja den Revolver vergessen! Den Valentin mitgebracht hatte und der jetzt in deinem Büro lag. Eine Ruger Redhawk wiegt rund 1,2 Kilo. Damit die Rechenaufgabe aufgeht, hatte Valentin also nur 0,3 Liter Blut verloren …«
»Hole«, sagte der Dekan. »Wenn das eine Frage an den Doktoranden werden soll …«
»Zuerst eine Frage an einen Experten für Blut«, sagte Harry und wandte sich dem Saal zu. »Oberarzt John Steffens, Sie sind Hämatologe und waren zufällig zugegen, als Penelope Rasch ins Krankenhaus eingeliefert wurde …«
John D. Steffens spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als alle Blicke sich auf ihn richteten. Genau wie damals, als er im Zeugenstand gesessen und erklärt hatte, wie seine Frau gestorben war. Wie ihr die Messerstiche zugefügt worden waren, bis sie buchstäblich in seinen Armen verblutet war. All die Blicke, damals wie heute. Anders’ Blick, damals wie heute.
Er schluckte.
»Ja, das stimmt.«
»Sie haben damals bewiesen, dass Sie einen sehr guten Blick für Blutmengen haben. Basierend auf einem Tatortfoto haben Sie den Blutverlust bei ihr auf relativ genau anderthalb Liter geschätzt.«
»Ja.«
Harry nahm ein Bild aus der Jackentasche und hielt es hoch. »Und basierend auf diesem Foto, das in Hallstein Smiths Büro aufgenommen worden ist und das ein Sanitäter Ihnen gezeigt hat, haben Sie auch hier den Blutverlust auf anderthalb Liter geschätzt, also anderthalb Kilo, richtig?«
Steffens schluckte. Er spürte Anders’ Blick in seinem Rücken. »Das stimmt. Plus/minus zwei Deziliter.«
»Nur zur Sicherheit, ist es möglich, nach einem derartigen Blutverlust noch einmal aufzustehen und zu fliehen?«
»Das ist individuell sehr unterschiedlich, aber wenn man die entsprechende Physis und einen starken Willen hat, ja.«
»Und damit komme ich zu meiner einfachen Frage«, sagte Harry.
Steffens spürte, wie der Schweiß ihm über die Stirn lief.
Harry wandte sich wieder dem Rednerpult zu.
»Wie geht das an, Smith?«
Katrine hielt die Luft an. Die Stille war jetzt fast mit den Händen zu greifen.
»Da muss ich passen, Harry, das weiß ich nicht«, sagte Smith. »Ich hoffe nur, dass meine Prüfung damit nicht gelaufen ist. Zu meiner Verteidigung möchte ich jedoch anfügen, dass die Frage nicht den Kern meiner Arbeit betrifft.« Er lächelte, erntete dieses Mal aber kein Lachen. »Eher betrifft sie die Arbeit der Polizei. Vielleicht kannst du die Frage also selbst beantworten, Harry?«
»Tja«, sagte Harry und holte tief Luft.
Nein, dachte Katrine.
»Valentin Gjertsen hatte gar keinen Revolver dabei, als er kam. Der befand sich nämlich bereits in deinem Büro.«
»Was?« Smiths Lachen hallte wie ein einsamer Vogelschrei durch den Saal. »Wie soll der denn da hingekommen sein?«
»Du hast ihn mit dahin genommen«, sagte Harry.
»Ich? Ich habe doch nichts mit einem Revolver zu tun.«
»Es war dein Revolver, Smith.«
»Meiner? Ich habe niemals einen Revolver besessen. Das kannst du im Waffenregister überprüfen.«
»Wo der Revolver registriert ist auf einen Seemann aus Farsund, den du wegen Schizophrenie behandelt hast.«
»Seemann? Was redest du da, Harry? Du hast doch selbst gesagt, dass Valentin dich mit diesem Revolver bedroht hat. In der Bar, in der er Mehmet Kalak getötet hat.«