»Danke«, sagte Harry. »Also, was sagst du, Smith? Willst du der Kommission das noch erklären, bevor wir dich verhaften?«
Hallstein Smith starrte Harry an. Nur sein Keuchen war zu hören, als hielten alle anderen die Luft an. Ein einzelnes Blitzlicht leuchtete auf.
Der Vorsitzende wandte sich mit hektischen roten Flecken im Gesicht an Ståle:
»Mein Gott, Aune, was geht hier eigentlich vor?«
»Wissen Sie, was eine Affenfalle ist?«, fragte Ståle Aune, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Hallstein Smiths Kopf ruckte hoch, als hätte man ihm einen Stromstoß verpasst. Er hob seinen Arm, zeigte an die Decke und rief lachend: »Was habe ich schon zu verlieren, Harry?«
Harry antwortete nicht.
»Die Antwort lautet: ja. Valentin wurde gesteuert. Von mir. Natürlich habe ich diese Briefe geschrieben. Für die Wissenschaft ist es aber nicht wichtig, wer hinter Valentin stand und ihn gesteuert hat, sondern lediglich, dass Valentin ein echter Vampirist war, wie aus meiner Forschung hervorgeht. Nichts von dem, was du hier sagst, macht meine Ergebnisse zunichte. Dass ich alles vorbereitet und quasi Laborbedingungen geschaffen habe, entspricht dem Vorgehen vieler Wissenschaftler. Nicht wahr?« Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. »Letzten Endes war es ja nicht meine Entscheidung, was er getan hat, sondern seine eigene. Und sechs Menschenleben sind kein zu hoher Preis für eine Arbeit«, Smith klopfte mit dem Zeigefinger auf seine gebundene Doktorarbeit, »durch die der Menschheit in Zukunft viel Leid und manch ein Mord erspart bleiben wird. Hier drinnen sind die Gefahrenmerkmale und Profile beschrieben. Es war Valentin Gjertsen, der das Blut der Opfer getrunken und sie getötet hat, nicht ich. Ich habe nur die Möglichkeit dazu geschaffen. Hat man das Glück, auf einen wahren Vampiristen zu stoßen, ist man verpflichtet, das auch zu nutzen. Eine kurzsichtige Moral darf kein Hemmnis sein. Man muss das große Ganze sehen, zum Besten der Menschheit. Fragen Sie Oppenheimer, fragen Sie Mao, fragen Sie Tausende von krebskranken Laborratten.«
»Dann hast du Lenny Hell und Marte Ruud uns zuliebe getötet?«, fragte Harry.
»Ja, ja! Das waren Opfer im Namen der Wissenschaft!«
»Wie du dich selbst und deine eigene Menschlichkeit geopfert hast? Aus Menschlichkeit?«
»Genau, genau!«
»Diese Menschen sind also nicht gestorben, damit du, Hallstein Smith, dich daran aufgeilen konntest? Sondern damit der Affe endlich auf dem Thron sitzt und sein Name in den Geschichtsbüchern steht. Das ist es doch, was dich in Wahrheit die ganze Zeit über angetrieben hat, oder?«
»Ich habe euch gezeigt, was ein Vampirist ist und wozu er in der Lage ist! Verdiene ich dafür nicht den Dank der Menschen?«
»Nun«, sagte Harry. »Du hast uns in erster Linie gezeigt, wozu ein gedemütigter Mann in der Lage ist.«
Hallstein Smiths Kopf ruckte wieder hoch. Sein Mund öffnete und schloss sich. Es kamen aber keine Worte mehr.
»Wir haben genug gehört.« Der Dekan erhob sich. »Diese Disputation ist beendet, und ich bitte möglicherweise anwesende Polizisten, die Verhaftung …«
Hallstein Smith bewegte sich überraschend schnell. Mit zwei Schritten war er unten am Tisch, schnappte sich den Revolver, lief zur ersten Reihe und legte den Lauf an den Kopf des nächsten Zuhörers.
»Aufstehen!«, fauchte er. »Und alle anderen bleiben sitzen!«
Katrine sah, wie eine blonde Frau sich erhob. Smith drehte sie um, so dass sie wie ein Schild vor ihm stand. Es war Ulla Bellman. In stummer Verzweiflung starrte sie mit offenem Mund auf einen Mann, der in der ersten Reihe saß. Katrine sah nur den Hinterkopf von Mikael Bellman und wusste nicht, was sein Gesicht ausdrückte, aber er rührte sich nicht. Ein Schluchzen war zu hören. Es kam von May Smith. Ihr Körper war etwas zur Seite gekippt.
»Lass sie los!«
Katrine drehte sich um. Die grunzende Stimme war von ganz hinten gekommen. Es war Truls Berntsen. Er war aufgestanden und kam langsam die Treppe herunter.
»Stopp, Berntsen!«, rief Smith. »Sonst erschieße ich erst die Frau und dann Sie!«
Aber Truls Berntsen blieb nicht stehen. Im Profil war sein Unterbiss noch deutlicher als sonst zu erkennen, aber auch die neuen Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem Pullover ab. Er hatte das Ende der Treppe erreicht und ging direkt auf Smith und Ulla Bellman zu.
»Noch einen Schritt …«
»Erschießen Sie mich zuerst, Smith, sonst schaffen Sie es nicht mehr.«
»Wie Sie wollen.«
Berntsen schnaubte. »Sie naiver Zivilist, Sie wagen es doch nicht …«
Katrine spürte einen Druck in den Ohren, als säße sie in einem Flugzeug, das plötzlich an Höhe verlor. Und verstand erst im Augenblick danach, dass der Knall aus dem großen Revolver gekommen war.
Truls Berntsen war mit rundem Rücken, etwas nach vorn gezogenen Schultern, stehen geblieben und schwankte. Der Mund geöffnet und die Augen hervortretend. Katrine sah das Loch auf Brusthöhe im Pullover und wartete, und dann kam das Blut. Truls schien all seine Kraft zusammenzunehmen, um sich auf den Beinen zu halten, den Blick fest auf Ulla Bellman geheftet. Dann kippte er nach hinten.
Irgendwo im Saal war der Schrei einer Frau zu hören.
»Keiner rührt sich vom Fleck«, rief Smith und ging rückwärts in Richtung Ausgang, wobei er Ulla Bellman noch immer vor sich hielt. »Wir bleiben draußen bei angelehnter Tür noch eine Minute stehen. Wenn ich sehe, dass einer von Ihnen aufsteht, erschieße ich sie.«
Natürlich war das ein Bluff. Aber trotzdem würde niemand es wagen, das auszutesten.
»Die Schlüssel für den Amazon«, flüsterte Harry, der noch immer stand. Er streckte Bjørn die Hand hin, der nach einer Sekunde reagierte und ihm die Schlüssel gab.
»Hallstein!«, rief Harry und machte einen Schritt aus seiner Stuhlreihe. »Ihr Auto steht auf dem Gästeparkplatz der Universität und wird dort gerade von der Spurensicherung untersucht. Ich habe die Schlüssel zu einem Wagen, der direkt hier draußen vor der Treppe steht, und ich bin sicher eine bessere Geisel für Sie.«
»Warum?«, fragte Smith und ging weiter rückwärts.
»Weil ich mich ruhig verhalten werde und weil Sie ein Gewissen haben.«
Smith blieb stehen und starrte Harry ein paar Sekunden nachdenklich an.
»Geh da rüber, und leg dir die Handschellen an«, sagte er und nickte in Richtung Tisch.
Harry trat vor, ging an Truls vorbei, der regungslos am Boden lag, und stellte sich mit dem Rücken zum Saal und zu Smith an den Tisch.
»So, dass ich dich sehen kann!«, rief Smith.
Harry drehte sich zu ihm um und hob die Hände, so dass Smith sehen konnte, dass die Nachbildung der alten Handschellen tatsächlich geschlossen war.
»Komm her!«
Harry ging zu ihm.
Smith schob Ulla Bellman zur Seite und richtete den Revolver auf Harry.
»Eine Minute!«
Katrine sah, wie Smith mit der freien Hand Harrys Schulter packte, ihn herumdrehte und durch die Tür schob, die er einen Spaltbreit offen stehen ließ.
Ulla Bellman starrte auf die halbgeöffnete Tür, dann drehte sie sich um und sah zu ihrem Mann, der sie zu sich winkte. Und Ulla Bellman ging los. Mit kurzen, unsicheren Schritten, als liefe sie über dünnes Eis. Neben Truls Berntsen ging sie auf die Knie und legte ihren Kopf auf seinen blutigen Pullover. Der eine schmerzerfüllte Schluchzer, der über Ulla Bellmans Lippen kam, war lauter als der Knall des Revolvers.
Harry spürte den Lauf des Revolvers im Rücken, als er vor Smith herging. Verdammte Scheiße! Er hatte tags zuvor alles bis ins Detail geplant und alle nur erdenklichen Szenarien durchdacht, aber das, was jetzt geschehen war, hatte er nie für möglich gehalten.
Harry öffnete die Eingangstür mit dem Fuß, und die kalte Märzluft schlug ihm ins Gesicht. Der vollkommen leere Universitätsplatz badete vor ihnen in der Sonne. Der schwarze Lack von Bjørns Volvo Amazon glänzte.