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»Los!«

Harry ging die Treppe hinunter auf den Platz. Als er unten war, rutschten ihm die Füße weg, und er stürzte seitlich zu Boden, ohne sich abstützen zu können. Ein stechender Schmerz schoss ihm durch Arm und Rücken, als er auf dem Eis aufschlug.

»Hoch mit dir!«, fauchte Smith, packte die Kette der Handschellen und zog ihn auf die Beine.

Harry nutzte den Schwung, den Smith ihm gab, er wusste, dass sich kaum eine bessere Chance bieten würde. Er schoss mit dem Kopf nach vorne und traf Smith, der zwei Schritte nach hinten taumelte und auf den Rücken fiel. Harry wollte sich auf Smith stürzen, aber der umklammerte mit beiden Händen den Revolver, der direkt auf Harry zeigte.

»Komm schon, Harry. Das Spielchen kenne ich, so habe ich in der Schule in jeder zweiten Pause gelegen. Versuch’s doch!«

Harry starrte in die Mündung des Revolvers. Smiths Nase hatte einen Knick, und da, wo die Haut aufgeplatzt war, war ein weißer Knochen zu erkennen. Ein dünner Streifen Blut rann ihm über den Nasenflügel.

»Ich weiß, was du denkst, Harry«, sagte Smith und lachte. »Er hat Valentin nicht einmal aus zweieinhalb Metern richtig getroffen. Also, versuch’s doch. Oder du schließt das Auto auf.«

Harrys Hirn ratterte, ging die Optionen durch. Dann drehte er sich um, öffnete langsam die Fahrertür und hörte, wie Smith hinter ihm wieder auf die Beine kam. Harry setzte sich und steckte langsam den Schlüssel ins Zündschloss.

»Ich fahre!«, sagte Smith. »Rutsch rüber!«

Harry tat, was von ihm verlangt wurde, und schob sich langsam und umständlich über den Schaltknüppel auf den Beifahrersitz.

»Und jetzt hebst du die Beine über die Handschellen.«

Harry sah ihn an.

»Ich will beim Fahren nicht plötzlich die Handschellen um den Hals haben«, sagte Smith und hob den Revolver an. »Dein Pro­blem, wenn du beim Yoga geschwänzt hast. Außerdem sehe ich, dass du Zeit schinden willst. Du hast fünf Sekunden. Von jetzt ab. Vier …«

Harry lehnte sich so weit nach hinten, wie der steil stehende Sitz es zuließ, streckte die zusammengeketteten Arme vor und zog die Knie an.

»Drei, zwei …«

Mit Mühe gelang es Harry, die frisch geputzten Schuhe über die Kette der Handschellen zu heben.

Smith setzte sich in den Wagen, beugte sich über Harry, zog den altmodischen Gurt über dessen Brust und ließ ihn einrasten. Dann zog er den Gurt so fest, dass Harry regelrecht an der Lehne fixiert war. Er nahm das Handy aus Harrys Jackentasche, legte sich selbst den Gurt an und schaltete den Motor ein. Dann gab er etwas Gas, schaltete in den Rückwärtsgang, ließ die Kupplung kommen und setzte in einem Bogen zurück. Zuletzt kurbelte er die Scheibe herunter und warf erst Harrys und dann sein eigenes Handy nach draußen.

Sie fuhren auf die Karl Johans gate und bogen nach rechts ab, auf das Schloss zu. Die Ampel schaltete auf Grün, und sie fuhren nach links, dann über einen Kreisverkehr und eine weitere Ampel vorbei am Konzerthaus in Richtung Aker Brygge. Der Verkehr lief flüssig. Viel zu flüssig, dachte Harry. Je weiter Smith und er kamen, bevor Katrine Streifen­wagen und Helikopter alarmieren konnte, umso größer war das Gebiet, in dem sie sein konnten, und umso mehr Straßensperren mussten letztendlich errichtet werden.

Smith sah über den Fjord. »Oslo ist an solchen Tagen am schönsten, nicht wahr?«

Smiths Stimme klang nasal und wurde von einem dünnen Pfeifen begleitet, das wahrscheinlich von der gebrochenen Nase herrührte.

»Ein stiller Reisebegleiter«, sagte Smith. »Aber vermutlich hast du für heute wirklich genug geredet.«

Harry hatte seinen Blick auf die Autobahn vor ihnen gerichtet, Katrine konnte sie über die Handys nicht anpeilen, aber solange Smith auf den Hauptstraßen blieb, bestand Hoffnung, dass sie schnell gefunden wurden. Von einem Helikopter aus wäre das Auto mit dem Rallyestreifen leicht von den anderen zu unterscheiden.

»Er ist zu mir gekommen, nannte sich Alexander Dreyer und wollte mit mir über Pink Floyd reden und über die Stimmen, die er hörte«, sagte Smith und schüttelte den Kopf. »Wie du weißt, verstehe ich mich auf das Lesen von Menschen, weshalb ich gleich erkannt habe, dass das kein normaler Mensch war, sondern ein selten extremer Psychopath. Anschließend habe ich das, was er über seine sexuellen Phantasien erzählt hat, mit Aussagen von Kollegen verglichen, die mit Sittlichkeitsverbrechern arbeiten, und schnell erkannt, mit wem ich es da zu tun hatte. Und was sein Dilemma war. Er hungerte danach, seinen Jagdin­stinkten zu folgen, aber ein einziger kleiner Fehler, ein noch so kleiner Ausrutscher, ein vager Verdacht, der die Aufmerksamkeit der Polizei auf Alexander Dreyer lenkte, würden ihn entlarven. Kannst du mir folgen, Harry?« Smith warf ihm einen raschen Blick zu. »Wenn er also wieder auf Jagd gehen wollte, musste dies in der Gewissheit geschehen, dass er sicher war. Er war perfekt, ein Mann ohne Alternativen. Ich musste ihm nur ein Halsband anlegen und den Käfig öffnen. Er würde fressen – und trinken –, was ihm vorgesetzt wurde. Aber ich konnte diese Angebote natürlich nicht selbst machen, ich brauchte einen fiktiven Puppenspieler, einen Blitzableiter, zu dem die Spuren führten, sollte ­Valentin geschnappt werden und ein Geständnis ablegen. Jemanden, der ohnehin irgendwann auffallen würde, so dass alles zusammenpasste und die Theorien meiner Doktorarbeit über den impulsiven, kindlich chaotischen Vampiristen stimmten. Lenny Hell war ein Eremit, der abgelegen wohnte und nie Besuch bekam. Bis eines Tages ganz überraschend sein Psychologe vor der Tür stand. Ein Psychologe, der etwas auf dem Kopf hatte, das ihn wie einen Habicht aussehen ließ, und der einen großen rotbraunen Revolver in der Hand hielt. Kra, kra, kra!« Smith lachte laut. »Du hättest Lennys Gesicht sehen sollen, als er kapierte, dass er gefangen und mein Sklave war! Zuerst habe ich ihn gezwungen, mein Patientenarchiv, das ich mitgebracht hatte, in sein Büro zu tragen. Dann haben wir einen Käfig, in dem meine Familie Schweine transportierte, in seinen Keller getragen. Als ich da nach unten gegangen bin, habe ich mir vermutlich den Kopf an dieser Scheißleitung gestoßen. Wir haben eine Matratze in den Käfig gelegt, auf der Lenny sitzen und liegen konnte, und dann habe ich ihn mit den Handschellen festgekettet. Und da blieb er dann. Eigentlich brauchte ich Lenny nicht mehr, nachdem ich die Details über die Frauen kannte, die er gestalkt hatte, ich die Schlüsselkopien zu ihren Wohnungen und sein Passwort hatte, so dass ich die E-Mails an Valentin von Lennys Computer schicken konnte. Trotzdem musste ich mit dem Arrangieren seines Selbstmordes noch warten. Sollte Valentin gefasst werden oder sterben und die Polizei die Verbindung zu Hell ermitteln, mussten sie ja eine frische Leiche finden, damit der zeitliche Ablauf auch stimmte. Damit die Polizei nicht zu früh auf Hell kam, musste ich außerdem dafür sorgen, dass er für den ersten Mord ein wasserdichtes Alibi hatte. Ich wusste ja, dass sein Alibi überprüft werden würde, da er mit Elise Hermansen in Telefonkontakt gestanden hatte. Also nahm ich Lenny mit in die Pizzeria im Dorf und präsentierte ihn so der Öffentlichkeit. Der Mord an Elise Hermansen sollte zeitgleich stattfinden, ich hatte Valentin alle entsprechenden Instruktionen dafür gegeben. Ich war dabei so konzentriert darauf, die Waffe unter dem Tisch auf Lenny zu richten, dass ich nicht früh genug bemerkte, dass im Pizzateig Nüsse waren.« Erneutes Lachen. »Anschließend hatte er viel Zeit allein in seinem Käfig. Ich musste lachen, als ihr Lenny Hells Sperma auf der Matratze gefunden und daraus geschlussfolgert habt, dass er Marte Ruud dort missbraucht hat.«

Sie fuhren an Bygdøy vorbei in Richtung Snarøya. Harry zählte automatisch die Sekunden. Vor zehn Minuten waren sie am Universitätsplatz losgefahren. Er sah nach oben zum wolkenlosen blauen Himmel.

»Denn Marte Ruud wurde nie missbraucht. Ich habe sie sofort erschossen, nachdem ich sie aus dem Wald in den Keller bugsiert hatte. Valentin hatte sie bereits zerstört, mein Schuss war reine Barmherzigkeit, eine Erlösung.« Smith drehte sich zu Harry. »Ich hoffe, du verstehst das, Harry? Harry? Findest du, dass ich zu viel rede?«