»Überblick?«, schnaubte Katrine. »Einzig von hier kann man den Überblick haben!«
»Ich weiß, aber versuch mal, ruhig zu bleiben, meine Kugel. Wir wollen doch nicht, dass der Kleine gestresst wird, oder?«
»Mein Gott, Bjørn.« Sie umklammerte ihr Telefon. »Warum konntest du mir nicht einfach sagen, was Harry vorhatte?«
»Weil ich es nicht wusste.«
»Du wusstest das nicht? Du musst doch etwas gewusst haben, wenn er die Spurensicherung auf Smiths Auto angesetzt hat.«
»Hat er nicht, das war ein Bluff. Genau wie das mit der Datierung von DNA-Material. Die Behauptung, dass wir festgestellt hätten, Smiths DNA-Material sei mehr als zwei Monate alt, war komplett aus der Luft gegriffen.«
Katrine starrte Bjørn an. Steckte die Hand in die Tasche und zog die gelbe Papiermappe heraus, die Harry ihr gegeben hatte. Öffnete sie. Drei Blätter. Alle leer.
»Bluff«, sagte Bjørn. »Um mittels Stilometrie-Programm ein sicheres Ergebnis zu bekommen, müssen die Texte mindestens fünftausend Zeichen haben. Die kurzen E-Mails, die an Valentin geschickt wurden, sagen nichts über den Verfasser aus.«
»Harry hatte nichts«, flüsterte Katrine.
»Gar nichts«, erwiderte Bjørn. »Er hatte es einzig und allein auf das Geständnis abgesehen.«
»Zum Teufel mit ihm!« Katrine drückte sich das Handy gegen die Stirn. Ob sie diese damit kühlen oder wärmen wollte, wusste sie selbst nicht. »Aber warum hat er nichts gesagt? Wir hätten draußen bewaffnete Polizeikräfte aufstellen können.«
»Weil er nichts sagen konnte.«
Die Antwort kam von Ståle Aune, der zu ihnen getreten war.
»Warum nicht?«
»Ganz einfach«, sagte Ståle. »Wenn er jemanden von der Polizei über seinen Plan informiert und die Polizei nicht eingegriffen hätte, wäre das, was da drinnen passiert ist, de facto ein Polizeiverhör gewesen. Ein nicht regelkonformes Verhör, da dem Verdächtigen seine Rechte nicht vorgelesen wurden, außerdem hat der Befrager ihn ja nun wirklich zu manipulieren versucht. Dann wäre nichts von dem, was Smith heute gesagt hat, vor Gericht verwendbar. Aber so …«
Katrine Bratt blinzelte. Dann nickte sie langsam. »Wie es aussieht, hat der Dozent und Privatmann Harry Hole an einer Disputation teilgenommen, bei der Smith freiwillig und vor Zeugen gesprochen hat. Warst du an der Sache beteiligt, Ståle?«
Ståle Aune nickte. »Harry hat mich gestern angerufen. Er hat mir von den Indizien erzählt, die gegen Hallstein Smith sprechen, und gesagt, dass er keine Beweise hat. Und dann hat er mich in den Plan eingeweiht, die Disputation zu nutzen, um Smith mit Hilfe einer Affenfalle zu stellen. Mit Steffens als Experten.«
»Und du hast geantwortet?«
»Dass Hallstein ›Affe‹ Smith schon einmal in eine solche Falle getappt ist und diesen Fehler sicher nicht noch mal machen wird.«
»Aber?«
»Harry hat meine eigenen Worte gegen mich verwendet und auf Aunes Postulat verwiesen.«
»Menschen sind notorisch«, sagte Bjørn. »Sie begehen immer wieder die gleichen Fehler.«
»Genau«, Aune nickte, »und Smith soll im Aufzug des Präsidiums zu Harry gesagt haben, dass er den Doktortitel gegen ein langes Leben tauschen würde.«
»Und natürlich ist dieser Idiot dann in die Affenfalle getappt«, stöhnte Katrine.
»Er ist seinem Spitznamen voll und ganz gerecht geworden, ja.«
»Nicht Smith, ich rede von Harry.«
Aune nickte. »Ich gehe in den Saal, Frau Bellman braucht Hilfe.«
»Ich komme mit und sichere den Tatort«, sagte Bjørn.
»Tatort?«, fragte Katrine.
»Berntsen.«
»Ach ja, stimmt.« Als die Männer weg waren, legte Katrine den Kopf in den Nacken und starrte wieder zum Himmel hoch. Wo blieb nur dieser Helikopter? »Zum Teufel!«, murmelte sie. »Zum Teufel mit dir, Harry!«
»Ist es denn seine Schuld?«
Katrine drehte sich um.
Mona Daa stand vor ihr. »Ich will nicht stören«, sagte sie. »Ich habe eigentlich frei, aber als ich das im Netz gelesen habe, musste ich einfach kommen. Wenn die VG irgendwas für Sie rausbringen soll, oder wenn Sie Smith über uns eine Nachricht zukommen lassen wollen …«
»Danke, Daa, dann melde ich mich.«
»Okay.« Mona Daa drehte sich um und watschelte in ihrem Pinguingang los.
»Ich war eigentlich verwundert darüber, dass Sie nicht bei der Disputation waren«, sagte Katrine.
Mona Daa blieb stehen.
»Immerhin haben Sie als Hauptreporterin der VG von Tag eins an über den Vampiristenfall berichtet«, sagte Katrine.
»Dann hat Anders noch nicht mit Ihnen gesprochen?«
Katrine merkte auf, als sie hörte, dass Mona Daa Anders Wyller wie selbstverständlich beim Vornamen nannte. »Mit mir gesprochen?«
»Ja. Anders und ich, wir …«
»Sie machen Witze«, sagte Katrine.
Mona Daa lachte. »Nein. Ich verstehe ja, dass das professionell betrachtet ein paar Probleme mit sich bringt, aber nein, Witze mache ich nicht.«
»Und wann …«
»Eigentlich gerade erst. Wir haben beide in den letzten Tagen freigenommen und die Zeit gemeinsam in Klausur verbracht – in Anders’ kleiner Wohnung –, um zu sehen, ob wir wirklich zueinanderpassen. Wir dachten, das wäre gut zu wissen, bevor wir darüber reden.«
»Dann wusste niemand davon?«
»Nicht, bis Harry uns bei seinem überraschenden Besuch beinahe auf frischer Tat ertappt hätte. Anders meinte, Harry hätte alles herausbekommen. Und ich weiß, dass er mich bei der VG zu erreichen versucht hat. Vermutlich wollte er wissen, ob er mit seinem Verdacht richtiglag.«
»Im Hinblick auf Verdächtigungen ist er ausgewiesenermaßen gut«, sagte Katrine und hielt weiter am Himmel nach dem Helikopter Ausschau.
»Ich weiß.«
Harry lauschte dem hohen Pfeifen, das Smith bei jedem Atemzug von sich gab. Und plötzlich nahmen seine Augen draußen auf dem Fjord etwas Merkwürdiges wahr. Einen Hund, der auf dem Wasser zu laufen schien. Schmelzwasser, das durch Spalten im Eis nach oben drückte, obwohl es noch immer fror.
»Mir ist der Vorwurf gemacht worden, dass ich mir Vampirismus einbilde, weil ich will, dass es ihn gibt«, sagte Smith. »Aber jetzt ist das für alle Ewigkeit bewiesen, und bald wird die ganze Welt wissen, was Professor Smiths Vampirismus ist, egal, was mit mir passieren wird. Und Valentin wird nicht der Einzige sein, es werden andere folgen. Der Blick der Welt wird weiterhin auf den Vampirismus gerichtet sein. Ich verspreche dir, die Nachfolger sind bereits rekrutiert. Du hast mich mal gefragt, ob Anerkennung wichtiger ist als das Leben. Natürlich ist sie das. Anerkennung ist ewiges Leben. Und auch du wirst ewig leben, Harry. Als der, der Hallstein Smith, den sie früher einmal den ›Affen‹ nannten, fast geschnappt hätte. Findest du, dass ich zu viel rede?«
Sie näherten sich IKEA. Noch fünf Minuten, dann würden sie in Asker sein. Der dort entstehende Stau würde Smith nicht irritieren, dort kam der Verkehr oft ins Stocken.
»Dänemark«, sagte Smith. »Da kommt der Frühling früher.«
Dänemark? Wurde Smith jetzt psychotisch? Plötzlich hörte Harry ein trockenes Klicken. Smith hatte den Blinker gesetzt. Nein! Scheiße! Er fuhr von der Hauptstraße ab, und Harry sah das Schild in Richtung Nesøya.
»Es ist genug Schmelzwasser auf dem Eis, um bis zum Rand des Eises zu kommen, meinst du nicht auch? Ein superleichtes Aluboot mit nur einem Mann Besatzung hat nicht so viel Tiefgang.«
Boot. Harry biss die Zähne zusammen und fluchte leise. Das Bootshaus. Er wollte zu dem Bootshaus, das laut Smith zum Hof gehörte.
»Über den Skagerrak sind es genau 130 Seemeilen. Wie lang dauert das bei durchschnittlich zwanzig Knoten? Harry, du kannst doch rechnen?« Smith lachte. »Ich habe es aber schon ausgerechnet. Mit dem Taschenrechner. Das sind sechseinhalb Stunden. Und dann kann man per Bus quer durch Dänemark fahren. Bis Kopenhagen ist es nicht weit. Nørrebro. Der Rote Platz. Ich setze mich auf eine Bank, halte ein Busticket hoch und warte auf das Reisebüro. Was hältst du von Uruguay? Ein schönes, kleines Land. Nur gut, dass ich den Weg bis in den Schuppen am Bootshaus geräumt habe, so dass da Platz für ein Auto ist. Sonst wäre es wegen des Rallyestreifens auf dem Dach vom Helikopter aus bestimmt leicht zu finden, oder was meinst du?«