»Halt deinen Mund, sonst erschieße ich dich gleich jetzt!«, rief Smith und hielt den Revolver an Harrys Kopf, ein Auge noch immer auf den Weg gerichtet.
Harry biss zu.
Spürte die Schmerzen, als sein Zahnfleisch zusammengedrückt wurde, und das Metall, das er geschmeckt hatte, seit er sich die Eisenzähne heimlich in den Mund geschoben und dann die Handschellen angelegt hatte. Die scharfen Zähne drangen überraschend glatt in Hallstein Smiths Handgelenk. Smith schrie auf, und Harry spürte den Revolver auf sein Knie und dann zwischen seine Füße fallen. Er spannte die Nackenmuskulatur an und zog Smiths Arm nach rechts. Smith ließ das Lenkrad los und versuchte, mit der linken Hand Harrys Kopf zu treffen, aber der Gurt hielt ihn so fest, dass er Harry nicht erreichte. Harry öffnete den Mund, etwas gurgelte in seiner Kehle, als er einatmete, und er biss erneut zu. Sein Mund füllte sich mit warmem Blut. Vielleicht hatte er die Pulsader getroffen, vielleicht nicht. Er schluckte den dicken, zähflüssigen Saft, wie Bratensauce, nur ekelhaft süß.
Smith bekam mit der linken Hand wieder das Lenkrad zu fassen. Harry hatte erwartet, dass er bremsen würde, stattdessen gab er Gas.
Die Räder des Amazon drehten auf dem Eis durch, bevor der Wagen nach unten in Richtung Bootshaus beschleunigte. Der Holzriegel brach wie ein Streichholz, als der zwei Tonnen schwere schwedische Oldtimer dagegenraste. Dann rissen die Schuppentüren aus den Scharnieren.
Harry wurde im Sitz nach vorn geschleudert, als der Wagen gegen einen Betonsockel knallte und das Zwölf-Fuß-Aluboot in Richtung Wasser drückte.
Er sah, dass der Zündschlüssel im Schloss abgeknickt war, dann ging der Motor aus. Er spürte einen stechenden Schmerz in Zähnen und Mund, als Smith seinen Arm zu sich zu reißen versuchte. Harry wusste, dass er nicht loslassen durfte, auch wenn er keinen großen Schaden anrichten konnte. Selbst wenn die Pulsader punktiert war, war sie an dieser Stelle des Handgelenks so dünn, dass es Stunden dauern konnte, bis Smith verblutete. Das wusste jeder Selbstmörder. Smith versuchte noch einmal, den Arm zu sich zu reißen, aber seine Kräfte ließen nach. Aus den Augenwinkeln sah Harry, wie blass Smith war. Wenn er kein Blut sehen konnte, wurde er vielleicht ohnmächtig? Harry presste die Kiefer, so fest er konnte, zusammen.
»Ich sehe, dass ich blute, Harry.« Smiths Stimme klang dünn, aber ruhig. »Wusstest du, dass Peter Kürten, der Vampir von Düsseldorf, vor seiner Enthauptung Dr. Karl Berg eine Frage gestellt hatte? Er wollte wissen, ob Berg glaube, dass er, Kürten, noch hören würde, wie das Blut aus seinem Hals spritze, bevor er das Bewusstsein verliere. Für Kürten wäre das der ultimative Genuss gewesen. Ich fürchte nur, dass das hier noch nicht genug für mich ist, Harry, für mich fängt der Genuss hier erst an.«
Mit einer schnellen Bewegung der linken Hand löste Smith seinen Gurt, beugte sich über Harry, legte den Kopf auf dessen Knie und suchte mit der linken Hand den Boden ab, jedoch ohne den Revolver zu ertasten. Er beugte sich noch tiefer und drehte Harry das Gesicht zu, um mit der Hand weiter unter den Sitz zu kommen. Harry sah, wie sich ein Lächeln auf Smiths Lippen ausbreitete. Er hatte den Revolver gefunden. Harry hob ein Bein an und trat mit aller Wucht nach unten. Spürte den Stahl und Smiths Hand unter der dünnen Sohle der Lederschuhe.
Smith stöhnte. »Weg mit dem Fuß, Harry. Sonst nehme ich das Messer. Hörst du? Weg mit dem …«
Harry öffnete den Mund und spannte die Bauchmuskeln an. »Iie u illst.« Mit einem Ruck riss er die Beine samt Smiths Kopf nach oben, wobei ihm der straff sitzende Gurt half.
Smith spürte, dass Harrys Schuhe sich vom Revolver lösten, gleichzeitig wurde er von den Beinen aber nach oben gerissen, so dass seine Finger die Waffe nicht festhalten konnten. Er musste nachfassen, den Arm ganz ausstrecken, und tatsächlich schaffte er es, mit zwei Fingern den Schaft der Waffe zu erreichen, als Harry seinen rechten Arm losließ. Er musste die Waffe jetzt nur noch anheben und auf Harry richten. Dann erkannte Smith mit einem Mal, was geschehen würde. Er sah, wie Harrys Mund sich erneut öffnete, sah das Metall aufblitzen, sah, wie er sich zu ihm hinunterbeugte, und spürte seinen warmen Atem auf der Haut seiner Kehle. Es fühlte sich an, als würden sich Eiszapfen durch seine Haut bohren. Sein Schrei verstummte abrupt, als Harrys Kiefer sich um seinen Kehlkopf schlossen. Dann knallte Harrys Fuß wieder nach unten und stemmte sich auf die Hand und den Revolver.
Smith versuchte, mit der rechten Hand auf Harry einzuschlagen, aber er konnte nicht weit genug ausholen, um ausreichend Kraft in den Schlag zu legen. Und er bekam keine Luft. Harry hatte die Halsschlagader nicht durchgebissen, sonst würde Blut spritzen, aber er drückte die Luftröhre zusammen, so dass Smith bereits spürte, wie der Druck in seinem Kopf zunahm. Trotzdem wollte er den Revolver nicht loslassen. Schon als Junge hatte er nie aufgeben können. Affe. Affe. Aber er brauchte Luft, sonst würde ihm der Kopf zerspringen.
Hallstein Smith ließ den Revolver los, den konnte er sich auch später noch sichern. Er hob die linke Hand und schlug seitlich auf Harrys Kopf ein. Dann hämmerte er die rechte auf Harrys Ohr. Wieder und wieder, bis er spürte, wie sein Ehering Harrys Augenbraue aufplatzen ließ. Seine Wut stieg ins Unermessliche, als er das Blut des anderen sah. Wie Benzin ein Feuer anfacht, mobilisierte das Blut bei ihm neue Kräfte. Er hämmerte los. Schlug auf Harry ein. Verteilte Prügel.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Mikael Bellman und starrte über den Fjord.
»Ich kann echt nicht glauben, was du getan hast«, sagte Isabelle Skøyen, die hinter ihm auf und ab lief.
»Das ist alles so schnell gegangen«, sagte Mikael und fokussierte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. »Ich konnte nicht denken.«
»Doch, du hast gedacht«, sagte Isabelle. »Nur nicht lange genug. Du hast gedacht, dass er dich erschießt, wenn du einzugreifen versuchst, aber nicht, dass die versammelte Presse dich auch erschießt, wenn du nicht eingreifst.«
»Ich war unbewaffnet, und er hatte einen Revolver. Niemand wäre auf die Idee gekommen, da einzugreifen, hätte nicht Truls, dieser Idiot, versucht, den Helden zu spielen.« Bellman schüttelte den Kopf. »Aber der arme Kerl war ja immer schon bis über beide Ohren in Ulla verliebt.«
Isabelle stöhnte. »Hätte Truls deinen Ruf zerstören wollen, er hätte nicht gerissener vorgehen können. Das Erste, was den Menschen jetzt durch den Kopf geht, ist Feigheit. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht.«
»Hör auf!«, fauchte Mikael. »Nicht nur ich habe nicht eingegriffen, da waren noch andere Polizisten im Raum, die …«
»Sie ist deine Frau, Mikael. Du hast neben ihr in der ersten Reihe gesessen, und auch wenn es deine letzten Tage im Amt sind, bist du der amtierende Polizeipräsident. Du musst der sein, der sie anführt. Und jetzt willst du Justizminister werden …«
»Du meinst also, ich hätte mich erschießen lassen sollen? Du hast schon mitbekommen, dass er wirklich geschossen hat? Truls hat Ulla dadurch auch nicht gerettet! Zeigt das nicht, dass ich als Polizeipräsident die Lage richtig eingeschätzt habe, während Kommissar Berntsen auf eigene Initiative einen schwerwiegenden Fehler begangen hat? Ja, dass er Ullas Leben sogar in Gefahr gebracht hat?«
»Natürlich müssen wir versuchen, die Sache so darzustellen. Ich sage ja nur, dass das schwierig wird.«
»Und was ist daran so verdammt schwierig?«
»Harry Hole. Dass er sich als Geisel zur Verfügung gestellt hat und nicht du.«
Mikael breitete die Arme aus. »Isabelle, es war Harry Hole, der die ganze Sache heraufbeschworen hat, als er Smith als Mörder entlarvt hat. Er hat Smith doch förmlich dazu gezwungen, zu der Waffe zu greifen, die vor ihm lag. Indem er sich als Geisel gemeldet hat, hat Hole nur die Verantwortung für das übernommen, was er angerichtet hat.«