Mona Daa erblickte ihn im Spiegel und nahm die Ohrhörer ab. »Berntsen? Ich dachte, im Polizeipräsidium gäb’s einen eigenen Fitnessraum?«
»Gibt es auch«, sagte er und trat näher. Warf den Pakis einen Ich-bin-Bulle-verpisst-euch-Blick zu, auf den sie nicht reagierten. Vielleicht irrte er sich ja in ihnen. Einige dieser Jungs gingen heute sogar auf die Polizeihochschule.
»Was führt Sie dann her?« Sie löste den Gürtel, und Truls starrte fasziniert auf ihre Taille, ob ihr Körper sich jetzt wieder zu dem üblichen Pinguin aufblähte.
»Ich dachte, wir könnten einander helfen.«
»Bei was?« Sie hockte sich vor die Stange und löste die Schrauben an den Gewichten.
Er ging neben sie in die Hocke und senkte die Stimme. »Sie haben gesagt, dass Sie für Tips gut bezahlen.«
»So ist es«, sagte sie, ohne leiser zu sprechen. »Was haben Sie?«
Er räusperte sich. »Das kostet fünfzigtausend.«
Mona Daa lachte laut. »Wir bezahlen gut, Berntsen, aber so gut nun auch wieder nicht. Zehntausend ist die Obergrenze, und dafür muss es schon wirklich ein echter Trüffel sein.«
Truls nickte langsam und befeuchtete sich die Lippen. »Es ist kein Trüffel.«
»Was haben Sie gesagt?«
Truls sprach etwas lauter. »Ich habe gesagt, dass es kein Trüffel ist.«
»Was ist es dann?«
»Ein Drei-Gänge-Menü.«
»Kommt nicht in Frage«, rief Katrine durch das Stimmenwirrwarr und nippte an ihrem White Russian Cocktail. »Ich habe einen Lebensgefährten, und der ist zu Hause. Wo wohnst du?«
»In der Gyldenløves gate. Aber da gibt’s nichts zu trinken, und unordentlich ist es auch …«
»Sauberes Bettzeug?«
Ulrich zuckte mit den Schultern.
»Du beziehst das Bett neu, während ich dusche«, sagte sie. »Ich komme direkt von der Arbeit.«
»Was machst du …?«
»Sagen wir, dass du nur zu wissen brauchst, dass ich früh rausmuss, also sollten wir …«
Sie nickte in Richtung Ausgang.
»Ja, klar, aber vielleicht könnten wir vorher noch austrinken?«
Sie warf einen Blick auf seinen Drink. Sie trank aus dem einzigen Grund White Russian, weil Jeff Bridges den in The Big Lebowski trank.
»Kommt darauf an«, sagte sie.
»Worauf?«
»Welche Wirkung Alkohol … auf dich hat.«
Ulrich lachte. »Willst du damit andeuten, dass ich es nicht draufhaben könnte, Katrine?«
Ihr schauderte, als sie ihren Namen aus dem fremden Mund hörte. »Hast du es drauf, Ul-rich?«
»Aber sicher«, sagte er grinsend. »Außerdem … weißt du eigentlich, was diese Drinks kosten?«
Sie lächelte. Ulrich war okay. Schlank. Das Gewicht war das Einzige, worauf sie bei den Profilen achtete. Und die Größe. Sie rechnete den BMI ebenso schnell aus wie ein Pokerspieler die Chancen auf den Pot. 26,5 war in Ordnung. Bevor sie Bjørn getroffen hatte, war sie der Meinung gewesen, alles über 25 sei inakzeptabel.
»Ich muss aufs Klo«, sagte sie. »Hier ist meine Garderobenmarke, schwarze Lederjacke. Warte an der Tür.«
Katrine stand auf, ging durch den Raum und nahm an, dass er ihr jetzt mit dem Blick folgte, schließlich war das seine erste Chance, ihr Fahrgestell, wie das bei ihr zu Hause genannt wurde, von hinten zu sehen. Sie wusste, dass er zufrieden war.
Im hinteren Teil des Lokals standen die Gäste dicht gedrängt, sie musste sich mit den Armen einen Weg durch sie hindurchbahnen. Ein einfaches »Entschuldigung« hatte hier nicht die gleiche Wirkung wie in zivilisierteren Ecken. Zum Beispiel in Bergen. Plötzlich blieb ihr zwischen den verschwitzten Körpern die Luft weg. Sie kämpfte sich vorwärts, und nach wenigen Schritten verschwand das Gefühl des Sauerstoffmangels wieder.
Im Toilettengang war wie üblich eine Schlange vor dem Damenklo, während bei den Männern niemand stand. Sie sah noch einmal auf die Uhr. Leitende Ermittlerin. Eigentlich wollte sie morgen früh die Erste sein. Oder? Scheiß drauf, dachte sie, öffnete resolut die Tür der Männertoilette, trat ein, ging unbemerkt an der Reihe der Pissoirs und zwei Männern vorbei, die ihr den Rücken zudrehten, und schloss sich in einer Toilette ein. Ihre wenigen Freundinnen betonten immer, dass sie nie im Leben auch nur einen Fuß in eine Männertoilette setzen würden, weil es da viel dreckiger sei als auf dem Frauenklo. Diese Erfahrung hatte Katrine nicht gemacht.
Sie hatte gerade die Hose heruntergelassen und sich gesetzt, als jemand vorsichtig an die Tür klopfte. Seltsam, dachte sie, da man von außen sah, dass das Klo besetzt war. Und wenn man es sah, warum klopfte man dann? Sie schaute nach unten. In den Spalt zwischen Tür und Boden ragten die Spitzen von schmal zulaufenden Cowboystiefeln aus Schlangenleder. Offenbar hatte der Stiefelträger sie auf die Männertoilette gehen sehen und war ihr gefolgt, weil er sie wohl für besonders experimentierfreudig hielt.
»Verschw…«, begann sie und brach aus Mangel an Luft ab. Wurde sie krank? Hatte sie der eine Tag als Leiterin der Ermittlungen in diesem, wie sie schon jetzt wusste, großen Mordfall so fertiggemacht? Mein Gott …
Sie hörte, wie sich die Tür des Toilettenraums öffnete und dass zwei laut palavernde Männer ins Klo kamen.
»Das ist echt der Wahnsinn!«
»Total verrückt.«
Die Stiefelspitzen verschwanden. Katrine lauschte, hörte aber keine Schritte. Sie machte sich fertig, schloss auf und ging zum Waschbecken. Das Gespräch der beiden lautstarken Kerle verstummte, als sie das Wasser andrehte.
»Was machst du denn hier?«, fragte einer der beiden.
»Pinkeln und mir die Hände waschen«, sagte sie. »Merkt euch die Reihenfolge.«
Sie schüttelte sich das Wasser von den Händen und ging nach draußen.
Ulrich stand mit ihrer Jacke an der Tür und erinnerte sie an einen Hund mit wedelndem Schwanz und Stock im Maul. Sie zwang sich, diesen Gedanken beiseitezuschieben.
Truls fuhr nach Hause. Er drehte das Radio lauter, als er hörte, dass sie den Motörhead-Song spielten, von dem er immer geglaubt hatte, er hieße »Ace of Space«. Bis Mikael irgendwann auf einer Schulfete gegrölt hatte: »Beavis glaubt übrigens, dass Lemmy Ace of … Space singt!« Das grölende, die Musik übertönende Lachen schallte noch heute in seinen Ohren nach, und auch das Funkeln in Ullas schönen, lachenden Augen hatte er nie vergessen.
Egal, Truls war noch immer der Meinung, dass »Ace of Space« ein besserer Titel wäre als »Ace of Spades«. Einmal, als Truls das Wagnis eingegangen war, sich in der Kantine an einen Tisch zu setzen, an dem schon andere saßen, hatte Bjørn Holm gerade in seinem lächerlichen Dialekt doziert, dass er es viel poetischer fände, wenn Lemmy 72 geworden wäre. Als Truls fragte, warum, hatte Bjørn nur geantwortet: »Sieben und zwei, zwei und sieben, alles klar? Morrison, Hendrix, Joplin, Cobain, Winehouse, die ganze Gang.«
Truls hatte wie die anderen genickt, aber nicht verstanden, was er meinte. Nur dass er noch immer nicht dazugehörte, das hatte er durchaus verstanden.
Aber dazugehören oder nicht, an diesem Abend war Truls um dreißigtausend reicher als Bjørn fucking Holm und all seine nickenden Kantinenfreunde.
Mona war richtig aufgeblüht, als Truls ihr von den Beißerchen erzählt hatte oder dem Eisengebiss, wie Holm es genannt hatte. Sie hatte ihren Redakteur angerufen und ihn überzeugt, dass diese Info wirklich, wie Truls es gesagt hatte, ein Drei-Gänge-Menü war. Die Vorspeise war, dass Elise Hermansen ein Tinder-Date gehabt hatte. Der Hauptgang, dass der Mörder vermutlich bereits in ihrer Wohnung gewesen war, als sie nach Hause kam, und das Dessert, dass er sie durch einen Biss mit einem Eisengebiss in die Halsschlagader getötet hatte. Zehntausend für jeden Gang. Dreißig. 3 und 0 und dreimal 0, nicht wahr?