»Ace of space, ace of space!«, grölten Truls und Lemmy.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Katrine und zog ihre Hose wieder an. »Wenn du kein Kondom hast, kannst du das vergessen.«
»Ich habe mich gerade erst vor zwei Wochen checken lassen«, sagte Ulrich und setzte sich auf die Bettkante. »Ehrenwort.«
»Dein Ehrenwort kannst du dir in die Haare schmieren …« Katrine hielt die Luft an, um sich die Hose zuzuknöpfen. »Geschweige denn, dass ich so schwanger werden könnte.«
»Verhütest du denn nicht?«
Doch, Ulrich gefiel ihr wirklich. Das war es nicht. Es war … ach, zum Teufel.
Sie ging in den Flur und zog die Schuhe an. Hatte sich gemerkt, wohin er ihre Lederjacke gehängt hatte und dass es an der Wohnungstür nur ein simples Drehschloss gab. Ja, sie sicherte immer ihren Rückzug. Sie verließ die Wohnung und lief die Treppe hinunter. Unten auf der Gyldenløves gate schmeckte die frische Herbstluft nach Freiheit. Irgendwie hatte sie das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Sie lachte. Ging zwischen den Baumreihen in der Mitte der breiten, menschenleeren Allee entlang. Mann, war sie fertig. Aber wenn sie sich so gut abgrenzen konnte und sich sogar den Rückzug gesichert hatte, als sie mit Bjørn zusammengezogen war, warum hatte sie sich damals keine Spirale einsetzen oder sich wenigstens die Pille verschreiben lassen? Im Gegenteil erinnerte sie sich an ein Gespräch, als sie Bjørn erklärt hatte, dass ihre sowieso schon angeknackste Psyche nicht auch noch eine Hormonmanipulation ertragen würde. Tatsächlich hatte sie die Pille abgesetzt, gleich nachdem sie mit Bjørn zusammengekommen war. Ihre Gedanken wurden vom Klingeln ihres Telefons unterbrochen. Das Eröffnungsriff von »O my soul« von Big Star, eingerichtet – natürlich – von Bjørn, der ihr voller Begeisterung von der vergessenen Südstaaten-Band aus den Siebzigern erzählt und sich beklagt hatte, dass der Dokumentarfilm über die Band auf Netflix ihm seine langjährige Missionarstätigkeit einfach kaputtgemacht habe. »Verdammt, das Besondere an unbekannten Bands ist doch, dass sie unbekannt sind!« Dieser Mann würde so schnell nicht erwachsen werden.
Sie ging ans Telefon. »Ja, Gunnar?«
»Ermordet mit Eisenzähnen?« Der in der Regel ruhige Dezernatsleiter klang stinkwütend.
»Entschuldigung?«
»Die Schlagzeile der VG in der Onlineausgabe. Und dann steht da noch, dass der Täter bereits in Elise Hermansens Wohnung war und ihr die Halsschlagader durchgebissen hat. Das Ganze wollen sie von einer zuverlässigen Polizeiquelle haben.«
»Was?«
»Bellman hat bereits angerufen. Er ist – wie soll ich sagen? – außer sich.«
Katrine blieb stehen. Versuchte nachzudenken. »Zum einen wissen wir noch gar nicht, ob er schon da war, zum anderen ist noch völlig unklar, ob er gebissen hat, wenn es denn überhaupt ein Er war.«
»Dann halt eine unzuverlässige Polizeiquelle, das ist mir egal! Wir müssen der Sache nachgehen. Wer ist der Informant?«
»Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass die VG schon aus Prinzip ihre Quelle schützen wird.«
»Prinzip hin oder her, sie wollen sich ihre Quelle warmhalten, weil sie natürlich davon ausgehen, dass da noch mehr kommt. Wir müssen dieses Leck stopfen, Bratt.«
Katrine hatte sich inzwischen wieder gesammelt. »Macht Bellman sich etwa Sorgen, dass dieses Leck den Ermittlungen schaden könnte?«
»Er macht sich Sorgen, dass die ganze Polizei damit in ein schlechtes Licht gerückt wird.«
»Dachte ich es mir.«
»Was dachtest du dir?«
»Du weißt, was ich dachte, weil du dasselbe denkst.«
»Darum müssen wir uns morgen früh als Erstes kümmern«, sagte Hagen.
Katrine steckte das Handy in ihre Jackentasche und sah nach vorn auf den Weg. Irgendetwas im Schatten hatte sich bewegt. Wahrscheinlich nur ein Windstoß in den Bäumen. Sie erwog kurz, die Straße zu überqueren und den hellerleuchteten Bürgersteig zu nehmen, doch dann beschleunigte sie einfach ihre Schritte und ging geradeaus weiter.
Mikael Bellman stand am Wohnzimmerfenster. Von ihrer Villa in Høyenhall aus konnte er das ganze Zentrum von Oslo überblicken, das sich nach Westen bis hoch zum Holmenkollen erstreckte. Abends funkelte die Stadt wie ein Diamant im Mondlicht. Sein Diamant.
Seine Kinder schliefen fest. Seine Stadt schlief relativ fest.
»Was ist los?«, fragte Ulla und sah von ihrem Buch auf.
»Dieser Mordfall muss gelöst werden.«
»Das müssen doch wohl alle Mordfälle.«
»Der hier ist besonders gravierend.«
»Weil es eine Frau ist?«
»Darum geht es nicht.«
»Oder weil die VG den Fall so groß rausgebracht hat?«
Er hörte den Anflug von Verachtung in ihrer Stimme, aber das beunruhigte ihn nicht weiter. Sie hatte sich wieder beruhigt, war wieder die Alte. Tief in ihrem Inneren kannte Ulla ihren Platz. Und sie war nicht auf Streit aus. Seine Frau liebte es über alles, für die Familie zu sorgen, sich um die Kinder zu kümmern und Bücher zu lesen. Deshalb erforderte die unverhohlene Kritik in ihrer Stimme keine Reaktion. Außerdem würde sie ohnehin nicht verstehen, dass man, wollte man als guter König in Erinnerung bleiben, nur zwei Möglichkeiten hatte. Entweder war man ein König in guten Zeiten, dafür brauchte man das Glück, während erfolgreicher Jahre auf dem Thron zu sitzen. Oder man war der König, der das Land aus Krisenzeiten herausführte. Wenn es keine Krisen gab, konnte man welche vom Zaun brechen, Kriege anzetteln und den Menschen klarmachen, in welch große Probleme es das Land stürzen würde, wenn man nicht in den Krieg zog. Dafür musste man den Teufel an die Wand malen. Es konnte ruhig ein kleiner Krieg sein, wichtig war nur, dass man ihn gewann. Mikael Bellman hatte den Medien und dem Senat gegenüber die Zahlen der Eigentumsdelikte durch Zugereiste aus den baltischen Staaten und Rumänien aufgeblasen und die Zukunft in düsteren Farben gemalt. Ihm war in der Folge ein Sonderetat bewilligt worden, um den in Wahrheit kleinen, in den Medien aber großen Krieg zu gewinnen. Und mit den letzten Zahlen, die er zwölf Monate später präsentierte, hatte er sich selbst indirekt zum Sieger ausgerufen.
Dieser neue Mord war kein kleiner Krieg, in dem er das Zepter führte. Nach den Schlagzeilen in der VG an diesem Abend wusste er, dass dies längst ein großer Krieg war, in dem die Medien das Kommando übernommen hatten. Er erinnerte sich an eine Lawine auf Spitzbergen, durch die zwei Menschen umgekommen waren und einige weitere ihre Häuser verloren hatten. Ein paar Monate später waren bei einem Feuer in einer Reihenhaussiedlung in Nedre Eiker drei Menschen gestorben und weitere obdachlos geworden. Dieser Fall hatte nur die üblichen, schlichten Artikel nach sich gezogen, wie für Hausbrände und Verkehrsunfälle typisch. Die Lawine auf der weit entfernten Insel hingegen war wesentlich medienwirksamer gewesen – genau wie dieses Eisengebiss. Die Presse war darauf angesprungen wie auf eine nationale Katastrophe. Und die Ministerpräsidentin – die immer dann sprang, wenn die Medien das wollten – hatte sich in einer Livesendung an die Norweger gewandt. Die Fernsehzuschauer und Reihenhausbewohner in Nedre Eiker wunderten sich, wo sie gewesen war, als es bei ihnen gebrannt hatte. Mikael Bellman wusste, wo sie gewesen war. Sie und ihre Ratgeber hatten wie immer mit einem Ohr auf den Medien-Gleisen gelegen und auf die Vibrationen gelauscht. Aber da war nichts gewesen.
Mikael Bellman spürte den Boden beben. Weil ausgerechnet jetzt, wo er als erfolgreicher Polizeipräsident die Chance auf Macht hatte, ein Krieg ausbrach, den er nicht verlieren durfte. Er musste diesen einen Mord so wichtig nehmen, als stünde er für eine neue Welle der Gewalt, ganz einfach weil Elise Hermansen eine gebildete, gutverdienende norwegische Frau in den Dreißigern war und weil es sich bei der Mordwaffe nicht um eine Eisenstange, ein Messer oder eine Pistole, sondern um Zähne aus Eisen handelte.