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Deshalb hatte er einen Entschluss gefasst, der ihm gar nicht passte. Aus vielerlei Gründen. Aber an dem doch kein Weg vorbeiführte.

Er musste ihn um Hilfe bitten.

Kapitel 6

Freitagmorgen

Harry wachte auf. Das Echo seines Traumes, eines Schreis, erstarb. Er zündete sich eine Zigarette an und versuchte heraus­zufinden, was das für ein Aufwachen gewesen war. Es gab fünf verschiedene Arten. Da war zunächst das Job-Aufwachen. Viele Jahre war das die beste Art gewesen, wenn er nahtlos in den Fall geglitten war, in dem er ermittelte. Manchmal hatten der Schlaf und die Träume die Perspektive etwas verschoben, und er hatte im Bett liegend jeden Aspekt des Falls von diesem neuen Blickwinkel aus betrachtet. Mit etwas Glück hatte er so Neues entdeckt, einen kleinen Teil der dunklen Seite des Mondes. Nicht weil der Mond sich bewegt, sondern weil er seinen Standpunkt verändert hatte.

Die zweite Art war das Allein-Aufwachen, geprägt von dem Bewusstsein, allein im Bett zu sein, allein im Leben, allein in der Welt. Dieses Aufwachen erfüllte ihn mal mit einem süßen Gefühl von Freiheit, dann wieder mit einer Melancholie, die man vielleicht auch Einsamkeit nennen konnte. Möglicherweise zeigte es lediglich in einem Augenblick von Klarheit, was das Leben des Menschen eigentlich war, nämlich eine Reise, die mit dem Gefühl der Verbundenheit begann, der sicheren, direkten Verbindung über die Nabelschnur, und bis zum Tod führte, der uns endgültig von allem und jedem trennte. Ein kurzer Moment der Weitsicht im Augenblick des Aufwachens, bevor unsere Schutzwälle wieder an Ort und Stelle sind und unsere tröstenden Illusionen wieder greifen und uns das Leben erträglich erscheinen lassen.

Dann gab es noch das Angst-Aufwachen. Das kam in der Regel, wenn er länger als drei Tage am Stück besoffen gewesen war. Die Angst war unterschiedlich intensiv, kam aber immer schlag­artig. Selten durch eine konkrete äußere Gefahr oder Bedrohung ausgelöst, mehr eine Panik, überhaupt aufzuwachen, am Leben zu sein, hier und jetzt. Manchmal spürte er aber auch so etwas wie die Angst, nie wieder Angst zu haben. Und endgültig und unumkehrbar verrückt zu werden.

Die vierte Art, das Es-ist-jemand-hier-Aufwachen, hatte Ähnlichkeit mit dem Angst-Aufwachen. Es setzte das Hirn in zwei Richtungen in Gang. Rückwärts: Wie zum Henker konnte das passieren? Und vorwärts: Wie komm ich aus der Nummer raus? Manchmal legte sich diese Fight-or-flight-Reaktion erst nach ­einiger Zeit, wenn es schon nicht mehr um das »Aufwachen« ging.

Und schließlich gab es noch die fünfte Art. Ein ganz neues Aufwachen für Harry Hole. Das Zufriedenheits-Aufwachen. Zu Beginn war er vollkommen überrascht gewesen, dass es möglich war, glücklich aufzuwachen. Er war automatisch alle Parameter durchgegangen, aus denen dieses idiotische »Glück« tatsächlich bestand, und ob es nicht nur das Echo eines ebenso naiven wie angenehmen Traums war.

In dieser Nacht hatte er jedenfalls keinen angenehmen Traum gehabt. Der Schrei, dessen Echo er gehört hatte, war der Schrei des Dämons gewesen, das Gesicht auf der Netzhaut des Mörders, den sie nicht gefasst hatten.

Trotzdem hatte Harry Hole das Gefühl, glücklich aufgewacht zu sein. Oder? Doch. Nachdem diese Art des Aufwachens sich häufte und Morgen für Morgen wiederholte, war er langsam zu der Erkenntnis gelangt, dass er wohl schlicht und ergreifend ein zufriedener Mann war, der mit Ende vierzig doch noch das Glück gefunden hatte und sich in diesem neueroberten Land tatsächlich hatte niederlassen können. Wenigstens vorläufig.

Die Hauptursache dafür lag weniger als eine Armlänge von ihm entfernt und atmete ruhig und gleichmäßig. Ihre Haare lagen wie die Strahlen einer rabenschwarzen Sonne auf dem Kopfkissen.

Was ist Glück? Harry hatte in einem Artikel über Glücksforschung gelesen, dass es ausgehend vom Glücksgehalt des Blutes, dem Serotoninspiegel, nur wenig äußere Ereignisse gab, die den Pegel über einen längeren Zeitraum reduzieren oder anheben konnten. Man kann einen Fuß verlieren, die Nachricht erhalten, dass man unfruchtbar ist, oder zusehen müssen, wie das eigene Haus abbrennt. Der Serotoninspiegel sinkt durch derartige Schicksalsschläge spontan ab, sechs Monate später ist man aber wieder so glücklich oder unglücklich wie vorher. Ähnlich verhält es sich, wenn man sich ein noch größeres Haus oder ein teureres Auto kauft.

Forscher hatten herausgefunden, dass es darüber hinaus bestimmte Dinge gab, die für das Empfinden von Glück entscheidend waren. Eine der wichtigsten Ursachen war eine gute Ehe.

Und genau die führte er. Es klang so banal, dass er lachen musste, wenn er das manchmal den wenigen Menschen gegenüber sagte, die er als seine Freunde bezeichnete oder mit denen er Umgang hatte: »Meine Frau und ich führen eine glückliche Ehe.«

Ja, er hielt das Glück in seiner hohlen Hand. Wenn er könnte, würde er die drei Jahre seit ihrer Hochzeit gerne in einem Copy-and-paste-Verfahren vervielfältigen und sie wieder und wieder leben. Aber so etwas hatte man nicht in der Hand, und vielleicht war das der Grund für die leichte Unruhe, die er trotz allem spürte? Die Zeit ließ sich nicht aufhalten, und Dinge ändern sich. Das Leben war wie der Rauch seiner Zigarette, der sich selbst in einem geschlossenen Raum bewegte und sich beständig auf nicht vor­hersehbare Weise veränderte. Da sein Leben jetzt perfekt war, würde jede Veränderung eine Verschlechterung bedeuten. Ja, so musste es sein. Glücklich, wie er war, hatte er das Gefühl, über dünnes Eis zu laufen, er wollte vorbereitet sein, wenn es brach, und so schnell wie möglich das kalte Wasser wieder verlassen. Deshalb hatte er auch damit begonnen, seine innere Uhr so zu programmieren, dass er früher als nötig aufwachte. Wie heute, wo er die erste Vorlesung zum Thema Mordermittlungen erst um elf Uhr hatte. Er wollte wach sein, einfach daliegen und das ungewohnte Glück spüren, solange es dauerte. Er verdrängte das Bild des Täters, den sie nicht gefasst hatten. Es war nicht mehr Harrys Verantwortung, nicht mehr Harrys Revier. Und der Mann mit dem Dämonengesicht tauchte auch immer seltener in seinen Träumen auf.

Harry stieg, so leise er konnte, aus dem Bett, obwohl ihr Atem nicht mehr so gleichmäßig ging und er den Verdacht hatte, dass sie sich schlafend stellte, um den Moment nicht kaputtzumachen. Er zog sich die Hose an, ging nach unten ins Erdgeschoss, steckte ihre Lieblingskapsel in die Espressomaschine, goss Wasser in den Tank und öffnete für sich selbst das kleine Glas mit dem Pulverkaffee. Er kaufte kleine Gläser, weil frisch geöffneter Pulverkaffee so viel besser schmeckte. Dann setzte er Wasser auf, schob seine nackten Füße in ein Paar Schuhe und ging nach draußen auf die Treppe.

Er sog die scharfe Herbstluft ein. Die Nächte begannen hier oben in Besserud am Holmenkollenveien bereits kalt zu werden. Er ließ seinen Blick über die Stadt und den Fjord schweifen, auf dem blauen Wasser zeichneten sich nur noch wenige Segelboote als kleine weiße Dreiecke ab. In zwei Monaten, oder weniger, würde hier oben der erste Schnee fallen. Aber das war in Ordnung, das große, braun gebeizte Holzhaus war für den Winter gebaut, nicht für den Sommer.

Er zündete sich die zweite Zigarette des Tages an und ging die steile, geschotterte Einfahrt hinunter. Hob die Füße bei jedem Schritt an, um nicht auf die losen Schnürsenkel zu treten. Er hätte eine Jacke anziehen können oder wenigstens ein T-Shirt, aber zu frieren war ein Luxus, den man sich leisten konnte, wenn man jederzeit in ein warmes Zuhause zurückkehren konnte. Er blieb am Briefkasten stehen und nahm die Aftenposten heraus.

»Guten Morgen, Herr Nachbar.«

Harry hatte den Tesla nicht aus der asphaltierten Einfahrt des Nachbarhauses kommen hören. Das Fenster auf der Fahrerseite stand offen, und dahinter saß die blonde Frau Syvertsen, die immer wie aus dem Ei gepellt aussah. Sie war für Harry, der aus einfachen Verhältnissen im Osten der Stadt stammte und noch nicht lange hier oben wohnte, der Inbegriff der klassischen Holmenkollenfrau. Hausfrau mit zwei Kindern und zwei Haushälterinnen, ohne Ambitionen, selbst zu arbeiten, obwohl der norwegische Staat ihr ein fünfjähriges Universitätsstudium finanziert hatte. Was andere als Freizeit bezeichneten, war für sie Arbeit: sich fit zu halten (Harry sah nur die Trainingsjacke, wusste aber, dass sie darunter einen enganliegenden Gymnastikanzug trug und für ihre knapp vierzig Jahre noch verdammt gut aussah), alle Termine zu managen (also immer zu wissen, welches Hausmädchen sich gerade um die Kinder kümmerte und wann und wohin die Familie in die Ferien fuhr: Sollte es das Haus in Nizza sein, die Skihütte im Hemsedal oder das Sommerhaus im Sørland?) oder ihr Netzwerk zu pflegen (Lunch mit Freundinnen, Essen mit Verwandten und potentiell wichtigen Kontakten). Ihr wichtigster Job war bereits abgehakt: sich einen Ehemann angeln, der genug Geld hatte, um ihr diese sogenannte Arbeit zu finanzieren.