Beach House. Er erinnerte sich mit einem Mal an den Song »Wishes«. Das war doch schon etwas. Und er erinnerte sich an Rakels blasses Gesicht auf dem weißen Kopfkissen. Im Licht und gleichsam doch im Dunkel, außer Fokus, nah und weit entfernt. Ein Gesicht, das sich im dunklen Wasser von unten gegen das Eis drückte. Und er erinnerte sich an Valentins Worte: Du bist so wie ich, Harry, du hältst es nicht aus.
»Was würdest du tun, Harry? Wenn du wüsstest, dass du bald sterben musst?«
»Ich weiß es nicht.«
»Würdest du …?«
»Ich weiß es nicht, habe ich gesagt.«
»Was weißt du nicht?«, flüsterte sie.
»Ob ich mit dir schlafen würde.«
In der Stille, die folgte, hörte er ein metallisches Klappern. Der Wind peitschte etwas über die Straße.
»Merkst du«, flüsterte sie. »Wir sterben.«
Harry hörte zu atmen auf. Ja, dachte er. Ich sterbe. Und spürte, dass auch sie zu atmen aufgehört hatte.
Hallstein Smith hörte den Wind in der Dachrinne pfeifen und spürte den Luftzug, der durch die Wand kam. Sie hatten sie so gut es ging isoliert, aber es war und blieb die Wand eines Stalls. Emilia. Er hatte gelesen, dass alle Orkane Mädchennamen bekommen hatten, seit im letzten Krieg ein Roman erschienen war, der von einem Sturm namens Maria handelte. Dass das in den Siebzigern dann aber aus Gründen der Gleichberechtigung geändert worden war, so dass diese zerstörerischen Naturkatastrophen nun auch Jungennamen trugen. Er starrte auf das lächelnde Gesicht über dem Skype-Symbol auf dem großen Bildschirm. Die Stimme war den Lippenbewegungen etwas voraus. »I think I have what I need, thank you so much for being with us, Mister Smith. At what for you must be very late, no? Here in L. A. it’s nearly three p. m., and in Sweden?«
»Norway. Almost midnight.« Hallstein Smith lächelte. »No problem, I’m only glad the press finally realized vampirism is for real and are seeking information about it.«
Sie beendeten das Gespräch, und Smith öffnete noch einmal seinen Mail-Posteingang.
Dreizehn E-Mails waren noch ungelesen, aus dem Betreff und dem Absender ging aber hervor, dass es sich um Anfragen für Interviews oder Vorträge handelte. Auch die E-Mail von Psychology Today hatte er noch nicht geöffnet. Weil er wusste, dass es nicht eilte. Er wollte sich das noch ein wenig aufsparen. Die Vorfreude genießen.
Er sah auf die Uhr. Die Kinder hatte er um halb neun ins Bett gebracht und dann noch wie gewöhnlich einen Tee getrunken. Sie hatten in der Küche gesessen, den Tag Revue passieren lassen und Freud und Leid miteinander geteilt. In den letzten Tagen hatte er ihr natürlich mehr zu erzählen gehabt als umgekehrt, er hatte aber darauf geachtet, dass auch die kleinen, dafür aber nicht weniger wichtigen Dinge des Hauses so viel Platz bekamen wie seine. Denn es stimmte, was er sagte: »Ich rede zu viel, und über diesen elenden Vampiristen liest du ja schon genug in der Zeitung.« Er sah aus dem Fenster, erahnte, wo das Wohnhaus stand, in dem jetzt alle schliefen, die er liebte. Die Wand knackte. Der Mond verschwand immer wieder hinter den dicken, dunklen Wolken, die schneller und schneller über den Himmel zogen. Die kahlen Zweige der toten Eiche draußen auf dem Acker schlugen hin und her, als wollten sie ihn warnen, dass Zerstörung und noch mehr Tod im Anmarsch waren.
Er öffnete eine E-Mail mit der Einladung, auf einem Psychologie-Kongress in Lyon eine Keynote zu halten. Derselbe Kongress hatte noch im Jahr davor seinen Antrag auf Redezeit abgelehnt. In Gedanken formulierte er eine Antwort. Er wollte sich bedanken, zum Ausdruck bringen, welche Ehre die Einladung für ihn sei, dann jedoch mit der Begründung ablehnen, dass er wichtigeren Kongressen Priorität geben und dieses Mal leider absagen müsse. Sie könnten aber gerne zu einer anderen Gelegenheit noch einmal anfragen. Er amüsierte sich, schüttelte dann aber über sich selbst den Kopf. Es gab keinen Grund, hochmütig zu werden, das plötzliche Interesse an Vampirismus würde schwinden, sobald die Angriffe aufhörten. Er nahm die Einladung an, wohl wissend, dass er höhere Forderungen stellen konnte, was die Reise, die Unterbringung und das Honorar anging, brachte es jedoch nicht übers Herz. Er hatte, was er brauchte, und wollte nur, dass sie ihm zuhörten und ihn auf der Reise durch das Labyrinth der menschlichen Psyche begleiteten. Und dass sie seine Arbeit anerkannten und verstanden und gemeinsam mit ihm dafür sorgten, dass das Leben der Menschen besser wurde. Mehr nicht. Er sah auf die Uhr. Drei Minuten vor zwölf. Und hörte ein Geräusch. Natürlich konnte das der Wind gewesen sein. Er klickte auf das Icon der Überwachungskameras auf dem Bildschirm. Das erste Bild war von der Kamera über dem Tor zum Grundstück. Es war auf.
Truls räumte auf.
Sie hatte angerufen. Ulla hatte angerufen.
Er stellte das Geschirr in die Spülmaschine und wusch zwei Weingläser ab. Er hatte noch immer die Flasche, die er für den Fall der Fälle gekauft hatte, bevor er ins Olsens gegangen war. Dann faltete er die leeren Pizzakartons zusammen und versuchte, sie in den Mülleimer zu stopfen, aber der Sack darin riss. Ärgerlich verstaute er sie daraufhin hinten im Schrank unter der Spüle. Musik. Was mochte sie? Er versuchte sich zu erinnern, und ein Lied kam ihm in den Sinn. Aber was war das noch mal? Etwas mit einer Barrikade? Duran Duran? Auf jeden Fall etwas, das wie a-ha geklungen hatte. Doch, die erste a-ha-Platte hatte er. Kerzen. Verdammt. Er hatte schon öfter Frauen bei sich zu Hause gehabt, aber da war es nicht so auf die Stimmung angekommen.
Das Olsens war gleich in der Nähe. Auch wenn draußen ein Sturm im Anmarsch war, sollte es kein Problem sein, an einem Mittwochabend ein Taxi zu kriegen. Sie konnte jeden Augenblick da sein, also nicht mehr duschen, sondern einfach Schwanz und Achselhöhlen waschen. Oder Achselhöhlen und dann den Schwanz. In der Reihenfolge. Mann, war er aufgeregt. Er hatte sich auf einen ruhigen Abend eingestellt, vielleicht auf eine Begegnung mit Megan Fox, wie sie früher gewesen war, aber dann hatte Ulla angerufen und gefragt, ob sie ihn nicht noch kurz besuchen dürfe. Was sie damit wohl meinte? Würde sie wieder wie beim letzten Mal Reißaus nehmen? T-Shirt. Das aus Thailand mit der Aufschrift »Same same but different«. Aber vielleicht verstand sie den Humor ja nicht. Oder sie dachte bei Thailand an irgendwelche Geschlechtskrankheiten. Oder sollte er das Armani-Shirt von MBK aus Bangkok anziehen? Nein, in dem synthetischen Stoff würde er nur schwitzen, und damit wäre klar, dass es eine billige Kopie war. Truls zog ein weißes T-Shirt unbekannter Herkunft an und hastete ins Bad. Sah, dass auch das Klo noch geputzt werden musste. Aber erst das Wichtigste …
Truls stand, den Schwanz in der Hand, am Waschbecken, als es zu klingeln begann.
Katrine starrte auf das brummende Telefon.
Es war bald Mitternacht, der Wind hatte in den letzten Minuten noch einmal zugelegt und kam nun in heftigen Böen, es heulte, knackte und schepperte draußen. Harry schlief trotzdem wie ein Stein.
Sie nahm das Gespräch an.
»Hier ist Hallstein Smith.« Er flüsterte aufgeregt.
»Ja, ich habe Ihre Nummer erkannt. Was ist denn los?«
»Er ist hier?«
»Was?«
»Ich glaube, es ist Valentin.«
»Was sagen Sie da?«
»Jemand hat das Tor geöffnet, und ich … mein Gott, ich höre jemanden kommen. Was soll ich machen?«
»Tun Sie nichts … versuchen Sie … können Sie sich verstecken?«
»Nein. Ich sehe über die Kamera jemanden auf dem Weg zum Eingang des Stalls. Mein Gott, er ist es.« Smith hörte sich an, als wäre er den Tränen nahe. »Was mache ich jetzt?«
»Verdammt, lassen Sie mich nachdenken«, stöhnte Katrine.
Jemand nahm ihr das Telefon aus der Hand.
»Smith? Harry hier, ich bin bei dir. Hast du die Tür zu deinem Büro abgeschlossen? Okay, dann tu das jetzt und schalte das Licht aus. Still und ruhig.«