Hallstein Smith starrte auf seinen Bildschirm. »Okay, ich habe abgeschlossen und das Licht ausgemacht.«
»Siehst du ihn?«
»Nein. Doch, jetzt sehe ich ihn.« Hallstein sah einen Mann am Eingang des Stalls. Er trat auf die Waage, taumelte etwas, fand die Balance wieder und ging an den Boxen vorbei direkt auf die Kamera zu. Als er unter einer der Lampen hindurchging, wurde sein Gesicht hell erleuchtet.
»Verdammt, er ist es wirklich, Harry. Es ist Valentin.«
»Immer mit der Ruhe.«
»Aber … das Tor ist sonst abgeschlossen, er muss einen Schlüssel haben, Harry. Vielleicht auch für die Bürotür.«
»Möglich, hast du da drinnen ein Fenster?«
»Ja, aber das ist zu eng und zu weit oben.«
»Etwas Schweres, womit du zuschlagen kannst?«
»Nein, aber … ich habe diese Pistole.«
»Du hast eine Pistole?«
»Ja, hier in der Schublade. Die habe ich aber noch nicht ausprobiert.«
»Atme, Smith. Wie sieht die aus?«
»Äh, schwarz. Im Präsidium haben sie gesagt, das sei irgendeine Glock.«
»Glock 17. Ist das Magazin drin?«
»Ja, und die Waffe soll auch geladen sein. Aber ich sehe keine Sicherung.«
»Ist okay, die ist im Abzug, du musst also nur den Abzug fest drücken, um zu schießen.«
Smith hielt sich den Hörer dicht vor den Mund und flüsterte, so leise er konnte. »Ich höre Schlüssel im Schloss.«
»Wie weit ist es bis zur Tür?«
»Zwei Meter.«
»Du stehst auf und nimmst die Pistole in beide Hände. Denk dran, dass du im Dunkel stehst und er das Licht hinter sich hat. Er sieht dich nicht richtig. Wenn er unbewaffnet ist, rufst du ›Polizei‹ und ›Auf die Knie‹. Siehst du eine Waffe, schießt du dreimal. Drei Mal, verstanden?«
»Ja.«
Die Tür vor Smith ging auf.
Und da stand er, eine dunkle Silhouette vor dem hellerleuchteten Stall. Hallstein Smith schnappte nach der Luft, die aus dem Raum gesaugt zu werden schien, als der Mann vor ihm die Hand hob. Valentin Gjertsen.
Katrine zuckte zusammen. Obwohl Harry sich den Hörer aufs Ohr presste, war der Knall durch das Telefon zu hören gewesen.
»Smith?«, rief Harry. »Smith, bist du da?«
Keine Antwort.
»Smith!«
»Valentin hat ihn erschossen«, stöhnte Katrine.
»Nein«, sagte Harry.
»Nein? Du hast gesagt, dass er dreimal schießen soll, außerdem antwortet er nicht!«
»Das war eine Glock, keine Ruger.«
»Aber wie …?« Katrine hielt inne, als sie durch das Telefon eine Stimme hörte. Sie sah Harrys hochkonzentriertes Gesicht und versuchte vergeblich zu erkennen, wem er zuhörte. War das Smiths Stimme oder die helle Stimme, die sie von alten Aufnahmen kannte und von der sie Alpträume bekommen hatte? Sagte der andere Harry jetzt, was er als Nächstes vorhatte?
»Okay«, sagte Harry. »Hast du seinen Revolver aufgehoben? Gut, leg ihn in die Schublade und setz dich an eine Stelle, von der aus du ihn gut siehst. Wenn er in der Tür liegt, lass ihn da liegen. Bewegt er sich? Macht er Geräusche? Nein. Nein, keine Erste Hilfe. Wenn er verletzt ist, wartet er vielleicht nur darauf, dass du näher kommst. Und wenn er tot ist, ist es sowieso zu spät. Befindet er sich irgendwo dazwischen, hat er Pech, weil du sitzen bleibst und aufpasst. Hast du das verstanden, Smith? Gut. Wir sind in einer halben Stunde da. Ich rufe aus dem Auto wieder an. Lass ihn nicht aus den Augen. Und ruf deine Frau an und sag ihr, dass sie im Haus bleiben soll und wir auf dem Weg sind.«
Katrine nahm ihm das Telefon ab, sah Harry aus dem Bett rutschen und im Bad verschwinden. Sie glaubte, ihn etwas rufen zu hören, merkte dann aber, dass er sich übergab.
Truls’ Handflächen waren so verschwitzt, dass er die feuchte Wärme durch den Stoff seiner Hose spürte.
Ulla war betrunken. Trotzdem saß sie stocksteif auf dem Rand des Sofas und umklammerte die Bierflasche, die er ihr gegeben hatte, als wollte sie sich damit verteidigen.
»Schon erstaunlich, dass ich das erste Mal bei dir zu Hause bin«, sagte sie etwas nuschelnd. »Und dabei kennen wir uns … wie lange?«
»Seit wir fünfzehn sind«, sagte Truls, der in seinem momentanen Zustand nicht kopfrechnen konnte.
Sie lächelte vor sich hin und nickte, das heißt, ihr Kopf kippte nur nach vorn.
Truls räusperte sich. »Ein ganz schöner Sturm da draußen. Diese Emilia …«
»Truls?«
»Ja.«
»Hast du Lust, mit mir zu schlafen?«
Er schluckte.
Sie kicherte, ohne den Blick zu heben. »Truls, ich hoffe, dein Zögern heißt nicht …«
»Natürlich will ich«, sagte Truls.
»Gut«, sagte sie. »Gut.« Hob den Kopf und sah ihn mit schwimmenden Augen an. »Gut.« Ihr Kopf schien auf dem schlanken Hals nicht richtig festzusitzen. Als wäre er mit etwas Schwerem überladen. Schwermut? Schwere Gedanken. Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Dies war seine Chance. Die Eröffnung, von der er geträumt, an die er aber nie zu glauben gewagt hatte: Er durfte mit Ulla Swart schlafen.
»Hast du ein Schlafzimmer, wo wir das machen können?«
Er sah sie an. Nickte. Sie lächelte, sah aber nicht froh aus. Zum Henker damit. Froh kann deine Großmutter aussehen, Ulla Swart war geil, und nur das zählte jetzt. Truls wollte die Hand ausstrecken und ihr über die Wange streicheln, aber sie gehorchte ihm nicht.
»Stimmt was nicht, Truls?«
»Nicht stimmen? Nein, nein, alles in Ordnung.«
»Du siehst so …«
Er wartete. Aber mehr kam nicht.
»So …?«, wiederholte er.
»Verloren aus.« Statt seiner Hand war es ihre, die ihm über die Wange streichelte. »Armer, armer Truls.«
Er hätte ihre Hand um ein Haar weggeschlagen, dabei berührte sie ihn nach so vielen Jahren zum ersten Mal, ohne Verachtung oder Abscheu. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Die Frau wollte gefickt werden, einfach und gut, und das würde er doch wohl schaffen, er hatte doch noch nie Probleme damit gehabt, einen hochzubekommen. Er musste sie jetzt nur von diesem Sofa ins Schlafzimmer lotsen, die Klamotten ausziehen und den Pariser holen. Sie sollte schreien, stöhnen, sich unter ihm winden, und er würde erst aufhören, wenn sie …
»Weinst du, Truls?«
Weinen? Wie voll war sie denn? Sah sie Gespenster?
Dann nahm er wahr, wie sie die Hand zurücknahm und sich auf den Mund drückte.
»Das sind echte, salzige Tränen«, sagte sie. »Bist du traurig? Wegen was?«
Jetzt spürte auch Truls, wie etwas Warmes ihm über die Wangen lief. Auch seine Nase begann zu tropfen, und der Kloß in seinem Hals wurde immer größer und drohte ihn zu ersticken.
»Ist das wegen mir?«, fragte sie.
Truls schüttelte den Kopf, außerstande zu reden.
»Wegen … Mikael?«
Die Frage war so idiotisch, dass er fast wütend wurde. Natürlich war das nicht wegen Mikael. Warum sollte er ausgerechnet an Mikael denken? An den Arsch, der eigentlich sein bester Freund sein sollte, seit ihrer Jugend, aber nichts anderes getan hatte, als ihn auszunutzen und bei jeder Gelegenheit bloßzustellen, um sich dann wieder hinter ihm zu verstecken, wenn ihnen Prügel drohten. Und später, als sie beide bei der Polizei waren, hatte er Truls Fucking Beavis genötigt, die Drecksarbeit zu übernehmen. Damit Mikael Bellman die Ziele erreichte, die er erreichen wollte. Warum sollte Truls hier sitzen und über eine Freundschaft weinen, die nur eine Zweckgemeinschaft zweier Außenseiter war, von denen einer erfolgreich und der andere ein ausgesprochener Verlierer geworden war? Nein, das war wirklich kein Grund. Aber warum begann der Verlierer dann wie ein Kind zu weinen, wenn er endlich die Chance hatte, ein bisschen was aufzuholen und die Frau des anderen zu vögeln? Jetzt sah Truls auch die Tränen in Ullas Augen. Ulla Swart. Truls Berntsen. Mikael Bellman. Es hatte immer nur sie drei gegeben. Der Rest von Manglerud konnte vor die Hunde gehen. Denn sie hatten niemanden sonst, nur sich.
Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Tasche und tupfte sich vorsichtig die Augen ab. »Soll ich gehen?«, schniefte sie.