»Ich …« Truls erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. »Ich weiß … ich habe keine Ahnung, Ulla.«
»Ich auch nicht«, lachte sie, sah auf die abgewischte Schminke auf ihrem Taschentuch und legte es zurück in die Tasche. »Vergib mir, Truls. Das war eine schlechte Idee. Ich werde jetzt gehen.«
Er nickte. »Ein andermal«, sagte er. »In einem anderen Leben.«
»Bingo«, sagte sie und stand auf.
Truls blieb im Flur stehen, nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, und lauschte dem immer leiser werdenden Echo ihrer Schritte im Treppenhaus. Bis er hörte, dass unten die Tür geöffnet wurde, geschlossen, und sie weg war, ganz weg.
Er fühlte … ja, was fühlte er? Erleichterung. Aber auch eine beinahe unerträgliche Verzweiflung, die sich wie ein physischer Schmerz in seiner Brust und seinem Bauch ausbreitete, so dass er für einen Moment an die Waffe dachte, die er im Schlafzimmerschrank aufbewahrte. Er könnte hier und jetzt Schluss machen. Dann sank er auf die Knie, stützte die Stirn auf die Fußmatte … und begann zu lachen. Ein Schnauben, das nicht mehr aufhören wollte, sondern immer lauter und lauter wurde. Verdammt, war das Leben herrlich!
Hallstein Smiths Herz hämmerte noch immer wie wild.
Er tat, was Harry gesagt hatte, und richtete seinen Blick und die Waffe auf den regungslos auf der Türschwelle liegenden Mann. Er spürte die Übelkeit kommen, als er sah, wie die Blutlache auf dem Boden sich langsam in seine Richtung ausbreitete. Er durfte sich jetzt nicht übergeben, durfte nicht die Konzentration verlieren. Harry hatte gesagt, dass er dreimal schießen sollte. Sollte er noch zwei Kugeln auf ihn abfeuern? Nein, der Mann war tot.
Mit zitternden Fingern wählte er Mays Nummer. Sie antwortete sofort.
»Hallstein?«
»Ich dachte, du schläfst.«
»Ich sitze mit den Kindern im Bett. Sie können wegen des Sturms nicht schlafen.«
»Ach ja. Du, gleich wird die Polizei hier sein. Mit Blaulicht und vielleicht auch Sirenen, aber ihr müsst keine Angst haben.«
»Angst, wovor?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Was ist passiert, Hallstein? Wir haben einen Knall gehört. War das der Wind oder etwas anderes?«
»May, du musst jetzt ganz ruhig bleiben. Es ist alles in Ordnung.«
»Ich höre doch, dass nicht alles in Ordnung ist. Hallstein! Die Kinder sitzen hier und weinen!«
»Ich … komme rüber und erkläre es euch.«
Katrine steuerte den Wagen über die schmale Straße, die kreuz und quer durch Wald und Felder führte.
Harry legte das Handy in seine Tasche. »Smith ist ins Haus gegangen, um sich um seine Familie zu kümmern.«
»Verständlich«, sagte Katrine.
Harry antwortete nicht.
Der Wind war noch stärker geworden. Im Wald musste sie auf abgebrochene Äste und anderes, das herumlag, aufpassen, und im freien Gelände drohten die Böen sie immer wieder von der Straße zu drücken.
Harrys Telefon klingelte erneut, als sie durch das geöffnete Tor auf Smiths Hof fuhren.
»Wir sind jetzt angekommen«, sagte Harry. »Sperrt das Gelände ab, wenn ihr da seid, aber fasst nichts an, bevor nicht die Spurensicherung da ist.«
Katrine hielt vor den Stallungen und sprang aus dem Wagen.
»Zeig mir den Weg«, sagte Harry und folgte ihr in das Gebäude.
Sie hörte Harry hinter sich fluchen, als sie nach rechts in Richtung Büro eilte.
»Sorry, ich habe vergessen, dir von der Waage zu erzählen«, sagte Katrine.
»Das ist es nicht«, sagte Harry. »Da ist Blut am Boden.«
Katrine blieb vor der offenen Bürotür stehen und starrte auf die Blutlache am Boden. Scheiße. Sie war leer.
»Pass auf Smith auf«, sagte Harry hinter ihr.
»Was …?«
Sie drehte sich um und sah Harry gerade noch nach links aus der Stalltür verschwinden.
Eine Windböe packte Harry, als er die Taschenlampe des Handys einschaltete und damit auf den Boden leuchtete. Dann fand er das Gleichgewicht wieder. Die Blutflecken waren auf dem hellen Kies gut zu erkennen, und das ausfransende Ende der Tropfen verriet ihm, in welche Richtung Valentin geflohen war. Den Wind im Rücken. In Richtung Wohnhaus.
Nicht …
Harry zückte seine Glock. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, um zu überprüfen, ob Valentins Revolver noch in der Schublade in Smiths Büro lag, andererseits musste er so oder so davon ausgehen, dass Valentin bewaffnet war.
Mit einem Mal waren die Blutspritzer weg.
Harry schwenkte sein Telefon hin und her und atmete erleichtert auf, als er sah, dass die Spuren vom Weg abzweigten und nicht mehr in Richtung Haus, sondern über das trockene gelbe Gras in Richtung Feld führten. Auch hier war das Blut gut zu erkennen. Der Sturm musste jetzt seine volle Stärke erreicht haben, und Harry spürte die ersten Regentropfen wie Projektile auf seine Haut schlagen. Sollte es richtig zu regnen beginnen, wären die Spuren innerhalb von Sekunden weg.
Valentin schloss die Augen, riss den Mund auf und hielt sein Gesicht in den Wind. Als könnte dieser neues Leben in ihn hauchen. Leben. Warum bekam alles immer erst wirklich einen Sinn, wenn man im Begriff war, es zu verlieren? Sie. Die Freiheit. Und jetzt das Leben, das langsam aus ihm heraussickerte. Er spürte das Blut in seine Schuhe laufen und dort kalt werden. Er hasste Blut. Der andere liebte es. Der, mit dem er den Pakt eingegangen war. Der Blutmann. Wann hatte er kapiert, dass dieser Mann der eigentliche Teufel war? Und dass er, Valentin Gjertsen, ihm seine Seele verkauft und sie verloren hatte? Er hob das Gesicht zum Himmel und lachte. Der Sturm war da. Der Dämon befreit.
Harry lief mit der Glock in der einen und dem Handy in der anderen Hand weiter.
Über die freie Fläche. Bergab mit Rückenwind, Valentin war verletzt und hatte den einfachsten Weg gewählt, um schnell Distanz zwischen sich und seine Verfolger zu bringen. Harry dröhnte der Kopf bei jedem Schritt, und auch der Magen wollte nicht mitspielen, aber er schluckte und würgte alles wieder herunter. Dachte an einen Waldweg. An einen Typ in neuen Under-Armour-Klamotten vor sich und rannte.
Als er sich dem Waldrand näherte, wurde er langsamer. Wenn er jetzt die Richtung ändern wollte, müsste er sich regelrecht gegen den Wind lehnen. Hinter den ersten Bäumen lag ein niedriger, verfallener Schuppen mit Wellblechdach. Ein Materiallager oder ein Unterstand für Tiere.
Harry richtete den Lichtschein auf den Schuppen. Er hörte nur den Sturm und sah nur die Dunkelheit. Er roch kein Blut – das schaffte er auch nicht einmal an einem warmen Tag mit Wind aus der richtigen Richtung –, wusste aber trotzdem, dass Valentin hier war. Wie er immer wieder etwas wusste und sich irrte.
Er leuchtete noch einmal auf den Boden. Die Blutspritzer lagen dichter beieinander, auch Valentin war an dieser Stelle langsamer geworden. Vielleicht um kurz nachzudenken, vielleicht aber auch, weil er erschöpft war und anhalten musste. Die Fährte, die bislang geradlinig verlaufen war, bog ab und führte zur linken Seite des Schuppens. Harry irrte sich nicht.
Er beschleunigte noch einmal seine Schritte und lief Richtung Waldrand auf die rechte Seite des Schuppens. Erst als er mehrere Reihen von Bäumen hinter sich hatte, blieb er stehen, schaltete das Licht seines Handys aus, hob die Glock und ging in einem Bogen um den Schuppen herum, um sich von der anderen Seite zu nähern. Die letzten Meter robbte er auf dem Boden weiter.
Er hatte den Wind jetzt im Gesicht, so dass das Risiko, dass Valentin ihn hörte, sehr gering war. Dafür trug der Wind ihm zwischen den Böen immer wieder Laute zu. Weit entfernt war das Heulen von Polizeisirenen zu hören.
Harry duckte sich gerade hinter einen umgestürzten Baum, als plötzlich ein Blitz vom Himmel zuckte und sich dicht am Schuppen eine Silhouette abzeichnete. Valentin. Er hockte, mit dem Rücken zu ihm, nur fünf oder sechs Meter entfernt.
Harry richtete die Waffe auf den Mann.
»Valentin!«
Der Ruf wurde teilweise übertönt von dem nun einsetzenden heranrollenden Donner, trotzdem war zu erkennen, wie die Gestalt vor ihm erstarrte.