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»Ich habe meine Pistole auf Sie gerichtet, Valentin. Legen Sie Ihre Waffe weg!«

Plötzlich schien der Wind abzuflauen. Harry hörte ein anderes Geräusch. Ein helles Lachen.

»Harry, bist du wieder zum Spielen gekommen?«

»Man gibt nicht auf, solange man eine Chance hat. Legen Sie die Waffe weg!«

»Du hast mich überlistet. Woher hast du gewusst, dass ich ­außerhalb des Schuppens bin und nicht drinnen?«

»Weil ich Sie inzwischen kenne, Valentin. Sie dachten, ich würde zuerst an dem logischsten aller Orte suchen, weshalb Sie sich nach draußen gehockt haben, um sich noch eine letzte Seele einzuverleiben.«

»Meinen Weg zu Ende gehen«, sagte Valentin und hustete. Spuckte etwas aus. »Wir sind Zwillingsseelen, unsere Seelen müssen an denselben Ort, Harry.«

»Legen Sie die Waffe weg, sonst schieße ich.«

»Ich denke oft an meine Mutter, Harry, du auch?«

Harry sah Valentins Hinterkopf im Dunkeln vor und zurück schwanken, und plötzlich badete alles erneut in dem hellen Licht eines Blitzes. Der nächste Regentropfen. Dieses Mal schwer und rund, nicht vom Wind zerfetzt. Sie waren im Auge des Sturms.

»Ich denke an sie, weil sie der einzige Mensch war, den ich noch mehr gehasst habe als mich selbst, Harry. Ich versuche, mehr kaputtzumachen, als sie kaputtgemacht hat, aber ich weiß nicht, ob das möglich ist. Sie hat mich zerstört.«

»Und mehr ist nicht möglich? Wo ist Marte Ruud?«

»Nein, mehr geht nicht. Denn ich bin einzigartig, Harry. Du und ich, wir sind nicht wie die anderen. Wir sind einzigartig.«

»Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, Valentin, aber ich bin nicht einzigartig. Wo ist sie?«

»Zwei schlechte Neuigkeiten, Harry. Erstens: Das rothaarige Mädchen können Sie vergessen. Zweitens: Doch, du bist einzigartig.« Neues Lachen. »Ein blöder Gedanke, oder? Du flüchtest dich in die Normalität, in die Durchschnittlichkeit der Masse und glaubst daran, dort so etwas wie Zugehörigkeit zu finden, dein wahres Ich. Aber dein wahres Ich sitzt hier, Harry, und fragt sich, ob es töten soll oder nicht. Und du nutzt diese Mädchen, Aurora, Marte, um deinen so wohligen Hass immer wieder neu anzufachen. Denn jetzt ist es deine Entscheidung, ob jemand leben oder sterben soll, und genau das genießt du. Du genießt es, Gott zu sein. Und hast davon geträumt, ich zu sein. Hast darauf gewartet, dass du auch einmal der Vampir sein darfst. Du spürst den Durst, das kannst du ruhig zugeben, Harry. Und eines Tages wirst auch du einen Schluck nehmen.«

»Ich bin nicht wie Sie«, sagte Harry und schluckte. Hörte sein Herz im Kopf hämmern. Spürte wieder den Wind. Und den nächsten zerfetzten Tropfen auf der Hand, die die Waffe hielt. Das war’s. Gleich waren sie wieder raus aus dem ruhigen Auge.

»Du bist wie ich«, sagte Valentin. »Und deshalb bist auch du überlistet worden. Du und ich, wir halten uns für schlau, aber letzten Endes werden wir alle überlistet, Harry.«

»Nicht …«

Valentin wirbelte herum, und Harry sah einen langen Lauf, der sich auf ihn richtete, bevor er den Abzug seiner Glock drückte. Einmal, zweimal. Wieder ließ ein Blitz den Wald taghell werden, und Harry sah Valentins Körper, der im Licht für einen Moment erstarrt war. Die Augen hervorgequollen, der Mund offen, die Brust rot von Blut. In der rechten Hand hielt er einen Stock, mit dem er auf Harry zeigte. Dann sackte er zusammen.

Harry stand auf und ging zu Valentin. Auf den Fersen hockend, den Oberkörper an einen Baum gelehnt, starrte er vor sich in die Luft. Er war tot.

Harry richtete die Waffe auf Valentins Brust und drückte ab. Der Donner übertönte den Schuss.

Drei Schüsse.

Nicht weil das Sinn machte, sondern weil die Musik nun mal so war, die Geschichte, es mussten drei sein.

Etwas näherte sich, ein Rauschen und Gepolter wie von donnernden Hufen, etwas, das die Luft vor sich herschob und die Bäume in die Knie zwang.

Dann kam der Regen.

Kapitel 31

Mittwochnacht

Harry saß an Smiths Küchentisch mit einer Tasse Tee in den Händen und einem Handtuch über den Schultern. Regenwasser tropfte aus seiner Kleidung auf den Boden. Draußen heulte noch immer der Wind, und das Wasser klatschte derart gegen die Scheibe, dass die Polizeiwagen mit den kreisenden Blaulichtern draußen auf dem Hof wie verkrüppelte Ufos aussahen. Trotzdem hatte man irgendwie den Eindruck, als hätten die Wassermassen die Luft abgebremst. Mond. Es roch nach Mond.

Harry bemerkte, dass Hallstein Smith, der ihm gegenübersaß, noch immer unter Schock stand. Seine Pupillen waren geweitet, der Blick apathisch.

»Und du bist dir ganz sicher …«

»Ja, Hallstein, er ist tot«, sagte Harry. »Aber es ist nicht sicher, dass ich noch am Leben wäre, hättest du nicht seinen Revolver mitgenommen, als du gegangen bist.«

»Ich weiß wirklich nicht, warum ich das getan habe, ich habe ihn ja für tot gehalten«, flüsterte Smith mit metallener Roboterstimme und starrte auf den Tisch, auf dem der große Revolver mit dem rotbraunen Schaft und die Pistole lagen, mit der er Valentin angeschossen hatte. »Ich dachte, ich hätte ihn mitten in die Brust getroffen.«

»Das hast du auch«, sagte Harry.

Mond. Die Astronauten hatten darüber gesprochen. Der Mond sollte nach verbranntem Pulver riechen, und dieser Geruch kam zum einen von der Pistole, die in Harrys Jacke steckte, zum anderen von der Glock, die auf dem Tisch lag. Harry nahm Valentins rotbraunen Revolver und roch an der Mündung. Auch da war das Pulver zu riechen, nur nicht so stark. Katrine kam in die Küche. Aus ihren schwarzen Haaren tropfte Wasser. »Die Spurensicherung ist jetzt bei Valentin.«

Sie sah auf den Revolver.

»Aus der Waffe ist geschossen worden«, sagte Harry.

»Nein, das stimmt nicht«, flüsterte Smith und schüttelte mechanisch den Kopf. »Er hat damit nur auf mich gezielt.«

»Nicht jetzt«, sagte Harry und sah zu Katrine. »Man riecht das Pulver noch Tage danach.«

»Marte Ruud?«, sagte Katrine. »Glaubst du …?«

»Ich habe zuerst geschossen.« Smith hob den Kopf und sah sie mit glasigen Augen an. »Ich habe auf Valentin geschossen, und jetzt ist er tot.«

Harry beugte sich vor und legte dem Psychologen die Hand auf die Schulter. »Und deshalb bist du am Leben, Hallstein.«

Smith nickte langsam.

Harry gab Katrine mit den Augen zu verstehen, dass sie sich um Hallstein kümmern sollte. Dann stand er auf. »Ich gehe in den Stall.«

»Aber nur dahin«, sagte Katrine. »Die werden mit dir reden wollen.«

Harry nickte. Der interne Ermittlungsdienst.

»Er wusste es«, flüsterte Smith. »Er wusste, wo er mich findet.«

Obwohl Harry nur vom Haus zu den Stallungen ging, war seine Kleidung erneut durchnässt, als er in Smiths Büro stand. Er setzte sich an den Schreibtisch und ließ den Blick durch den Raum schweifen, bis seine Augen an der Zeichnung hängenblieben. Das Wesen mit den Fledermausflügeln wirkte eher einsam als bedrohlich. Vielleicht kam ihm das Bild deshalb so bekannt vor. Harry schloss die Augen.

Er brauchte einen Drink, verdrängte den Gedanken und schlug die Augen wieder auf. Das Foto auf dem Bildschirm vor ihm war zweigeteilt, eines für jede Überwachungskamera. Er nahm die Maus, führte den Cursor zur Uhr und spulte zurück bis drei ­Minuten vor Mitternacht. Etwa da hatte Hallstein Smith angerufen. Nach ungefähr zwanzig Sekunden kam eine Gestalt vor dem Tor des Grundstücks zum Vorschein. Valentin. Er kam von links. Da war die große Straße. Bus? Taxi? Er hielt einen weißen Schlüssel in der Hand, schloss auf und schlüpfte hinein. Das Tor ging langsam wieder zu, fiel aber nicht ins Schloss. Fünfzehn bis zwanzig Sekunden später sah Harry Valentin auf dem Foto mit dem Stall­eingang und der Waage. Valentin hätte auf der Waage beinahe das Gleichgewicht verloren. Der Zeiger an der Wand gab an, dass die Bestie, die so viele Menschen getötet hatte, einige davon mit den bloßen Händen, nur vierundsiebzig Kilo wog, zweiundzwanzig weniger als Harry. Dann kam Valentin auf die Kamera zu, es sah aus, als starrte er direkt in die Linse, ohne sie zu sehen. Bevor er aus dem Bild verschwand, sah Harry, wie er die Hand tief in die Tasche seiner Jacke steckte. Dann waren nur noch der leere Stall, der Zeiger der Waage und der oberste Teil von Valentins Schatten zu sehen. Harry rekonstruierte die Sekunden. Er erinnerte sich an jedes Wort des Telefonats mit Hallstein Smith. Der Rest des Tages und die Stunden bei Katrine waren vollkommen weg, diese Sekunden aber waren wie in Stein gemeißelt. So war es immer gewesen. Wenn er trank, wurde sein privates Hirn mit Teflon abgedichtet, während sein Polizistenhirn weiterhin alles aufsaugte, als wollte der eine Teil vergessen, der andere hingegen sich zwanghaft an alles erinnern. Die Kollegen von der internen Ermittlung müssten ein dickes Vernehmungsprotokoll schreiben, wollten sie alle Details festhalten, an die er sich erinnerte.