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Harry sah den Rand der Tür ins Bild ragen, als Valentin öffnete, den Arm hob, und zu Boden ging.

Harry ließ das Video schneller laufen.

Dann schaute er sich an, wie Hallstein durch den Stall nach draußen eilte.

Eine Minute später schleppte Valentin sich in dieselbe Richtung. Harry ließ die Bilder wieder langsamer laufen. Valentin lehnte sich an die Boxen an einer Seite des Stalls. Er sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Aber er kam weiter, Meter für Meter. Blieb schwankend auf der Waage stehen. Der Zeiger zeigte anderthalb Kilo weniger als bei seinem Kommen. Harry warf einen Blick auf die Blutlache auf dem Boden hinter dem PC, bevor er beobachtete, wie Valentin mit dem Mechanismus der Stalltür kämpfte. Fast glaubte Harry, Valentins Überlebenswillen spüren zu können. Oder war es nur die Furcht, gefasst zu werden? In diesem Moment wurde Harry bewusst, dass die Filmsequenz, die er gerade verfolgte, sicher einmal an die Öffentlichkeit geraten und ein YouTube-Hit werden würde.

Bjørn Holms blasses Gesicht tauchte in der Tür auf. »Hier hat das also alles angefangen.« Er trat ein, und Harry war sogleich wieder fasziniert davon, wie der ansonsten motorisch so wenig elegante Kriminaltechniker sich an einem Tatort in einen Balletttänzer verwandelte. Bjørn ging neben der Blutlache in die Hocke.

»Wir bringen ihn jetzt weg.«

»Hm.«

»Vier Schusswunden, Harry. Wie viele davon sind von …?«

»Drei«, sagte Harry. »Hallstein hat nur einmal geschossen.«

Bjørn Holm schnitt eine Grimasse. »Er hat auf einen bewaffneten Mann geschossen, Harry. Was willst du der internen Ermittlung zu deinen Schüssen sagen?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Die Wahrheit, was sonst? Dass es dunkel war, und Valentin einen Stock in der Hand hielt, um mir weiszumachen, er hätte eine Waffe. Bjørn, er wusste, dass er am Ende war und wollte, dass ich ihn erschieße.«

»Trotzdem. Drei Schüsse in die Brust eines unbewaffneten Mannes …«

Harry nickte.

Bjørn holte tief Luft, sah sich über die Schulter um und fügte leise hinzu: »Okay, es war dunkel, Regen und Sturm. Und dann da draußen im Wald. Wenn ich jetzt noch mal da rausgehe, finde ich in dem Matsch, in dem Valentin gelegen hat, vielleicht ja doch noch eine Pistole.«

Die zwei sahen sich an, während der Wind die Wände knacken ließ.

Harry starrte auf Bjørn Holms gerötete Wangen und wusste, welche Überwindung ihn das kosten musste. Dass er mehr anbot, als er geben konnte, und aufs Spiel setzte, was ihnen beiden heilig war. Die Moral. Den Seelenfrieden.

»Danke«, sagte Harry. »Danke, mein Freund, aber das muss ich ablehnen.«

Bjørn Holm blinzelte zweimal. Schluckte. Atmete lang und zitternd aus und lachte kurz und unpassend, erleichtert.

»Ich sollte wieder zurückgehen«, sagte er und stand auf.

»Tu das«, sagte Harry.

Bjørn Holm stand zögernd vor ihm, als wollte er noch etwas sagen oder einen Schritt vortreten und ihn in die Arme nehmen. Harry konzentrierte sich wieder auf den PC. »Bis später, Bjørn.«

Auf dem Bildschirm verfolgte er den gebeugten Rücken des Kriminaltechnikers auf dem Weg nach draußen.

Harry schlug mit der Faust auf die Tastatur. Einen Drink. Verdammt, verdammte Scheiße! Nur einen Drink!

Dann fiel sein Blick auf den Fledermausmann.

Was hatte Hallstein gesagt? Er wusste es. Er wusste, wo er mich findet.

Kapitel 32

Mittwochnacht

Mikael Bellman stand mit verschränkten Armen da und fragte sich, ob im Polizeibezirk Oslo jemals eine Pressekonferenz um zwei Uhr nachts abgehalten worden war. Er lehnte links des ­Podiums an der Wand und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Ein paar Redakteure, die Nachtdienst in den Zeitungen hatten, ein paar wenige Chefs vom Dienst, eine Handvoll Journalisten von den Nachrichtendesks und ein paar Reporter, die eigentlich über die Verwüstungen durch Emilia berichten sollten oder von ihren Vorgesetzten für die Pressekonferenz aus den Betten geklingelt worden waren und entsprechend verschlafen nach vorne starrten. Mona Daa war in Trainingsklamotten und Regenjacke gekommen und sah hellwach aus.

Oben auf dem Podium saßen Dezernatsleiter Gunnar Hagen und Katrine Bratt, die im Detail über die Aktion in Valentin Gjertsens Wohnung in Sinsen und das nachfolgende Drama auf Hallstein Smiths Hof berichtete. Blitzlichter leuchteten auf, und Bellman wusste, dass die eine oder andere Kamera auch auf ihn gerichtet wurde, auch wenn er nicht oben auf dem Podium saß. Er versuchte deshalb, die Miene aufzusetzen, die Isabelle ihm empfohlen hatte, als er sie auf dem Weg hierher angerufen hatte. Ernst, aber mit der inneren Zufriedenheit eines Siegers. »Doch vergiss nicht, dass Menschen gestorben sind«, hatte Isabelle gesagt. »Also kein Grinsen und keine allzu offensichtliche Freude. Stell dir vor, du wärst Admiral Eisenhower am D-Day, du trägst die Verantwortung für den Sieg, aber auch für die Tragödie.«

Bellman unterdrückte ein Gähnen. Ulla hatte ihn geweckt, als sie besoffen von ihrem Frauenabend zurückgekommen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie seit ihrer Jugend jemals ­betrunken gesehen zu haben. Apropos betrunken. Harry Hole stand neben ihm, und wüsste Bellman es nicht besser, würde er sagen, dass auch der frühere Hauptkommissar betrunken war. Er sah müder aus als die meisten Journalisten, und seine nassen Klamotten rochen nach Schnaps.

Ein schneidender Rogaland-Dialekt war zu hören. »Ich verstehe, dass Sie den Namen des Polizisten, der auf den Täter geschossen und ihn getötet hat, nicht preisgeben wollen, aber Sie müssen doch in der Lage sein, uns zu sagen, ob Valentin Gjertsen bewaffnet war oder zurückgeschossen hat?«

»Wie gesagt, möchten wir mit den Details warten, bis wir ganz im Bilde sind«, sagte Katrine und zeigte auf Mona Daa, die eine Hand gehoben hatte.

»Vielleicht können und wollen Sie uns mehr über Hallstein Smiths Rolle bei dem Ganzen sagen?«

»Ja«, sagte Katrine. »Da kennen wir alle Details, da der Tathergang aufgezeichnet wurde und wir mit Smith währenddessen ­telefoniert haben.«

»Das sagten Sie bereits, aber mit wem hat er telefoniert?«

»Mit mir«, sie räusperte sich. »Und mit Harry Hole.«

Mona Daa legte den Kopf schief. »Dann waren Sie und Harry Hole im Präsidium, als das passiert ist?«

Mikael Bellman sah Katrines hilfesuchenden Blick zu Gunnar Hagen, aber der Dezernatsleiter schien nicht zu verstehen, was sie wollte. Und Bellman auch nicht.

»Wir können, was die Arbeitsmethoden der Polizei angeht, gerade bei diesem Fall nicht zu sehr ins Detail gehen«, sagte Hagen. »Zum einen, weil das Beweismaterial sehr sensibel ist, und zum anderen auch, weil wir nicht zu viel im Hinblick auf die Taktik bei zukünftigen Fällen offenbaren wollen.«

Mona Daa und die anderen im Saal schienen sich damit zufriedenzugeben, dabei sah Bellman Hagen deutlich an, dass dieser keine Ahnung hatte, was er da deckte.