Und plötzlich waren die Gedanken wieder da.
Nur zwei.
Simpel und hartnäckig.
Der eine lautete: Wenn Rakel nicht überlebt, folgst du ihr. Dann gehst du denselben Weg.
Der andere: Wenn sie überlebt, verlässt du sie. Sie verdient etwas Besseres und muss die Beziehung dann nicht selber beenden.
Und ein dritter.
Harry legte das Gesicht in die Hände und überlegte, ob er sich wünschte, dass sie überlebte, oder nicht.
Verdammt, verdammte Scheiße!
Und ein vierter.
Was Valentin im Wald gesagt hatte.
Aber letzten Endes werden wir alle überlistet, Harry.
Hatte er damit gemeint, dass Harry ihn überlistet hatte? Oder meinte er jemand anderen? Hatte jemand anders Valentin überlistet?
Deshalb bist auch du überlistet worden.
Das hatte er gesagt, bevor er Harry überlistet und glauben gemacht hatte, er wäre bewaffnet. Aber meinte er das wirklich so, ging es nicht um etwas ganz anderes?
Harry zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
Drehte sich um und hob den Blick.
Oleg stand hinter ihm.
»Ich habe dich nicht kommen gehört«, versuchte Harry zu sagen, aber seine Stimme gehorchte nicht richtig.
»Du hast geschlafen.«
»Geschlafen?« Harry schob sich etwas vom Tisch weg. »Nein, nein, ich habe hier nur gesessen und nach …«
»Du hast geschlafen, Papa«, unterbrach Oleg ihn lächelnd.
Harry blinzelte eine Träne weg. Sah sich um. Streckte die Hand aus und legte die Finger um die Kaffeetasse. Sie war kalt. »Hm. Verdammt!«
»Ich habe nachgedacht«, sagte Oleg, zog den Stuhl neben Harry vom Tisch weg und setzte sich.
Harry versuchte, trotz trockener Kehle, zu schlucken.
»Und du hast recht.«
»Habe ich?« Harry trank einen Schluck kalten Kaffee, um den Geschmack von Galle herunterzuspülen.
»Ja. Deine Verantwortung geht über die Verantwortung für deine Nächsten hinaus. Du musst auch für die da sein, die dir nicht so nahe sind. Ich habe nicht das Recht, von dir zu verlangen, dass du die alle im Stich lässt. Dass solche Mordfälle für dich auch wie Drogen sind, ändert daran gar nichts.«
»Hm, und zu der Erkenntnis bist du ganz allein gekommen?«
»Ja, und nein, Helga hat mir auf die Sprünge geholfen.« Oleg sah auf seine Hände. »Sie ist besser als ich darin, etwas aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und … ich hab das nicht so gemeint, als ich gesagt habe, dass ich nicht so wie du werden will.«
Harry legte Oleg die Hand auf die Schulter und sah, dass er das Elvis-Costello-Shirt trug, das er von Harry geerbt hatte und in dem er immer schlief. »Mein Junge?«
»Ja?«
»Versprich mir, dass du nicht so wirst wie ich. Das ist das Einzige, worum ich dich bitte.«
Oleg nickte. »Da ist noch etwas«, sagte er.
»Ja?«
»Steffens hat angerufen. Wegen Mama.«
Harry hatte ein Gefühl, als legte eine eiserne Klaue sich um sein Herz, er hörte auf zu atmen.
»Sie ist aufgewacht.«
Kapitel 33
Donnerstagmorgen
»Ja?«
»Spreche ich mit Anders Wyller?«
»Ja.«
»Guten Morgen, ich rufe aus der Rechtsmedizin an.«
»Guten Morgen.«
»Es geht um das Haar, das Sie uns zur Analyse geschickt haben.«
»Ja?«
»Haben Sie den Ausdruck bekommen, den ich Ihnen geschickt habe?«
»Ja.«
»Die Analyse ist noch nicht vollständig abgeschlossen, aber wie Sie sehen, gibt es eine Verbindung zwischen der DNA in dem Haar und einem DNA-Profil, das wir in Zusammenhang mit dem Vampiristenfall registriert haben. Genauer gesagt, dem Profil 201.«
»Ja, das habe ich gesehen.«
»Ich weiß ja nicht, wer 201 ist, aber Valentin Gjertsen ist das nicht. Da ich nichts von Ihnen gehört habe, wollte ich mich vergewissern, dass Sie die Ergebnisse auch erhalten haben. Ich gehe doch davon aus, dass wir die Analyse fortsetzen sollen? Schließlich ist das ja ein Teilerfolg.«
»Nein, danke.«
»Nein? Wirklich?«
»Der Fall ist gelöst, und Sie haben in der Rechtsmedizin doch sicher andere Sachen zu tun. Ist der Ausdruck eigentlich noch an jemand anders als mich geschickt worden?«
»Nein, ich glaube nicht, es hat niemand darum gebeten. Sollen wir …?«
»Nein, nein, nicht nötig. Sie können den Fall abschließen. Danke für Ihre Hilfe!«
Teil III
Kapitel 34
Samstag
Masa Kanagawa holte das rotglühende Stück Eisen mit der Schmiedezange aus dem Ofen und legte es auf den Amboss. Dann begann er, mit kleinen Hämmern darauf einzuschlagen. Die Hämmer hatten jene traditionelle japanische Form, bei der der Kopf wie bei einem Galgen etwas weiter vorragte. Masa hatte die kleine Schmiede von seinem Vater übernommen, der sie wiederum von seinem Großvater hatte, aber wie alle Schmieden in Wakayama hatte er den Betrieb nur mit Mühe vor dem Konkurs retten können. Die Stahlindustrie, über Jahrzehnte das ökonomische Rückgrat der Stadt, war nach China abgewandert, so dass Masa auf Nischenprodukte hatte ausweichen müssen. Wie das katana, ein besonders in den USA populäres Samuraischwert, das er auf Direktbestellung für Privatkunden in der ganzen Welt produzierte. In Japan brauchten Schwertschmiede laut Gesetz eine Lizenz, die man erst nach fünf Jahren Ausbildung erhielt, und auch mit Lizenz durften nur zwei Langschwerter pro Monat hergestellt werden, die dann bei den Behörden registriert werden mussten. Masa war nur ein einfacher Schmied ohne Lizenz, der gute Schwerter für einen Bruchteil dessen herstellte, was lizenzierte Schwerter kosteten. Natürlich war das illegal und durfte nicht bekannt werden. Für was seine Kunden die Schwerter brauchten, wusste Masa nicht und wollte es auch nicht wissen. Er hoffte aber, dass sie damit lediglich trainierten oder ihre Waffensammlungen schmückten. Er konnte seiner Familie mit dieser Arbeit gerade so das Auskommen sichern und tat deshalb alles, um die kleine Schmiede am Leben zu erhalten. Seinem Sohn hatte er klipp und klar gesagt, dass er sich einen anderen Beruf suchen und am besten studieren solle, die Arbeit als Schmied sei zu hart und der Lohn zu gering. Der Sohn hatte den Rat seines Vaters befolgt, aber die Universität kostete Geld, so dass Masa alle nur erdenklichen Aufträge angenommen hatte. So auch die Kopie der Eisenzähne aus der Heian-Periode. Der Auftrag war jetzt schon zum zweiten Mal von einem Kunden aus Norwegen gekommen. Das erste Mal hatte Masa diese Zähne vor einem halben Jahr hergestellt. Masa hatte keinen Kundennamen, nur eine Postfachadresse. Aber das war in Ordnung, der Kunde hatte im Voraus bezahlt. Masa hatte einen hohen Preis verlangt. Zum einen, weil es kompliziert war, die Zähne anhand der Zeichnung zu schmieden, die der Kunde ihm geschickt hatte, zum anderen, weil er bei dieser Arbeit wirklich kein gutes Gefühl hatte. Dabei wusste Masa eigentlich nicht, warum es ihm so widerstrebte, die Zähne zu schmieden, andererseits lief ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn er sie betrachtete. Und wenn er über die Melody Road 370 zurückfuhr – die singende Straße, in die sie ganz spezielle Rillen eingelassen hatten, die eine Melodie erzeugten, wenn die Räder darüber rollten –, hörte er nicht mehr wie früher die schöne, beruhigende Chormusik, sondern eine Warnung, ein tiefes Grummeln, das lauter und lauter wurde und in einem Schrei gipfelte. Wie von einem Dämon.
Harry wachte auf. Er zündete sich eine Zigarette an und fühlte in sich hinein. Was für ein Aufwachen war das gewesen? Sicher kein Job-Aufwachen. Es war Samstag, die Vorlesungen nach den Winterferien begannen erst am Montag, und in die Bar musste er auch nicht, heute war Øystein an der Reihe.
Es war auch kein Alleine-Aufwachen. Rakel lag neben ihm. In den ersten Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er sie wie jetzt beim Schlafen beobachtet und immer gefürchtet, sie könnte nicht aufwachen, dass das rätselhafte »Etwas«, das die Ärzte nicht hatten finden können, zurückkam.