»Wir können den alten Arch nicht länger im Zweifel lassen, als wir gezwungen sind«, hatte Jamie gesagt und den Streitgesprächen ein Ende gesetzt. »Wenn die Leiche deutlich sichtbar dort liegt, kann es sein, dass er sich zeigt – oder auch nicht. Aber dann weiß er, dass seine Frau tot ist.«
»So ist es«, sagte Bobby Higgins und blickte beklommen zum Wald. »Und was glaubt Ihr, was er dann tut?«
Jamie stand da, blickte zum Wald und schüttelte den Kopf.
»Trauern«, antwortete er leise. »Und morgen früh sehen wir dann, was zu tun ist.«
Es war keine normale Totenwache, aber wir verliehen ihr so viel Würde, wie wir konnten. Amy hatte für Mrs Bug ihr eigenes Leichentuch gestiftet – das sie nach ihrer ersten Hochzeit genäht und sorgfältig aufbewahrt hatte –, und Großmütterchen MacLeod kleideten wir in die Überreste meines zweiten Hemdes und ein paar Schürzen, aus denen wir hastig etwas Respektables nähten. Sie wurden Fuß an Fuß je auf eine Seite der Veranda gelegt, und wir stellten jeder Toten ein Tellerchen Salz und eine Scheibe Brot auf die Brust, obwohl kein Sündenesser in der Nähe war. Ich hatte ein kleines Tonöfchen mit Kohlen gefüllt und es neben sie gestellt, und wir einigten uns darauf, dass wir uns im Lauf der Nacht abwechselnd zu den Toten setzen würden, da nicht mehr als zwei oder drei Personen auf die Veranda passten.
»Es hatte geschneit, und der Mondschein lag so silbern auf allem, als sei’s heller Tag«, sagte ich leise. Denn genau so war es; der Dreiviertelmond warf ein reines, kaltes Licht, das jeden einzelnen verschneiten Baum so deutlich und zart wie auf einer japanischen Tuschezeichnung hervortreten ließ. Und weiter entfernt in den Ruinen des Haupthauses verbargen die verkohlten Mikadostäbchen, was immer auch darunterlag.
Jamie und ich übernahmen die erste Wache. Niemand hatte widersprochen, als Jamie das verkündete. Niemand redete darüber, doch jeder hatte das Bild im Kopf, wie Arch Bug allein im Wald lauerte.
»Meinst du, er ist hier?«, fragte ich Jamie leise. Ich nickte zu den dunklen Bäumen hinüber, die friedlich in ihre eigenen Leichentücher gehüllt waren.
»Wenn du es wärst, die hier liegt, a nighean«, sagte Jamie und blickte auf die stillen weißen Gestalten an der Verandakante hinunter, »würde ich an deiner Seite sein, lebend oder tot. Komm und setz dich.«
Ich setzte mich neben ihn. Das Tonöfchen stand direkt neben unseren Knien, die in unsere Umhänge gewickelt waren.
»Die Armen«, sagte ich nach einer Weile. »Sie sind so weit weg von Schottland.«
»Das stimmt«, sagte er und nahm meine Hand. Seine Finger waren nicht wärmer als die meinen, doch ihre Größe und Kraft trösteten mich trotzdem. »Aber zumindest werden sie unter Menschen begraben, die ihre Sitten und Gebräuche kennen, wenn schon nicht unter ihren Verwandten.«
»Das ist wahr.« Sollten Großmütterchen MacLeods Enkel je zurückkommen, würden sie zumindest ein Kreuz auf ihrem Grab finden und wissen, dass man gut zu ihr gewesen war. Mrs Bug hatte keine Verwandtschaft außer Arch – niemanden, der kommen und nach ihrem Grabkreuz suchen würde. Aber sie würde unter Menschen sein, die sie gekannt und geliebt hatten. Doch wie stand es mit Arch? Wenn er Verwandte in Schottland hatte, so hatte er das nie erwähnt. Seine Frau war sein Ein und Alles gewesen, so wie er für sie.
»Du, äh, glaubst nicht, dass Arch sich … etwas antun könnte?«, fragte ich vorsichtig. »Wenn er Bescheid weiß?«
Jamie schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Das wäre ihm nicht ähnlich.«
Einerseits war ich erleichtert, das zu hören. Andererseits – und sehr viel weniger mitfühlend – konnte ich nicht umhin, mich beklommen zu fragen, wie ein so aufbrausender Mensch wie Arch wohl auf diesen Schicksalsschlag reagieren mochte – um die Frau gebracht, die für den Großteil seines Lebens sein Anker und sein sicherer Hafen gewesen war.
Was würde ein solcher Mensch wohl tun?, fragte ich mich. Sich vom Sturm treiben lassen, bis er auf ein Riff traf und sank? Oder sein Leben notdürftig in Wut verankern und die Rache zu seinem neuen Kompass machen? Ich hatte die Schuldgefühle gesehen, die Jamie und Ian belasteten; wie viel mehr davon trug Arch in sich? War es möglich, dass ein Mensch solche Schuldgefühle still erduldete? Oder musste er sie nach außen kehren, um überleben zu können?
Jamie hatte mir nichts über seine eigenen Gedankengänge verraten, doch mir war nicht entgangen, dass er sowohl seine Pistole als auch den Dolch im Gürtel stecken hatte – und dass die Pistole geladen war; ich konnte einen Hauch von Schwarzpulver unter dem harzigen Atem der Fichten riechen. Es war natürlich möglich, dass er sie brauchte, um einen Wolf oder Füchse auf Abwegen zu vertreiben …
Wir saßen eine kleine Weile schweigend da und sahen dem Glühen der Kohlen im Tonöfchen und dem Flackern des Lichts in den Falten der Leichentücher zu.
»Meinst du, wir sollten beten?«, fragte ich.
»Ich bete ohne Unterlass, seit es geschehen ist, Sassenach.«
»Ich weiß, was du meinst.« Das stimmte – erst die flehentliche Bitte, es möge nicht wahr sein, und hinterher das verzweifelte Gebet um Rat; das Bedürfnis, etwas zu tun, wo es wirklich nicht das Geringste zu tun gab. Und natürlich die Bitte um die Erlösung der Verstorbenen. Großmütterchen MacLeod war immerhin auf ihren Tod gefasst gewesen – und hatte ihn begrüßt, so dachte ich. Mrs Bug hingegen musste einen fürchterlichen Schrecken bekommen haben, sich so plötzlich tot wiederzufinden. Vor meinem inneren Auge entstand die verstörende Vorstellung, wie sie direkt vor der Veranda im Schnee stand und böse auf ihre Leiche hinunterfunkelte, die Hände auf die kräftigen Hüften gestemmt, die Lippen ärgerlich gespitzt, weil man sie so rüde aus ihrem Körper gerissen hatte.
»Uns hat es auch sehr erschreckt«, sagte ich entschuldigend zu ihrem Umriss.
»Aye, so war es.«
Jamie griff in seinen Umhang und zog seine Zinnflasche hervor. Er entkorkte sie, beugte sich vor und träufelte jeder der beiden Toten vorsichtig ein paar Tropfen Whisky auf den Kopf. Dann hob er die Flasche und prostete erst Großmütterchen MacLeod, danach Mrs Bug zu.
»Murdina, Gemahlin des Archibald, Ihr wart eine große Köchin«, sprach er. »Euer Brot werde ich nie vergessen, und ich werde jeden Morgen beim Porridge an Euch denken.«
»Amen«, sagte ich mit einer Stimme, die zwischen Lachen und Tränen bebte. Ich nahm die Flasche entgegen und trank einen Schluck; der Whisky brannte mir in der belegten Kehle, und ich hustete.
»Ich kenne ihr Rezept für Senfgemüse. Das sollte nicht verloren gehen; ich werde es aufschreiben.«
Dieser Gedanke erinnerte mich an den Brief, den ich noch unfertig in meiner Tasche hatte. Jamie spürte, wie ich innehielt, und wandte mir fragend den Kopf zu.
»Ich habe nur an unseren Brief gedacht«, sagte ich und räusperte mich. »Ich meine, auch wenn Roger und Bree wissen, dass das Haus abgebrannt ist, wird es sie doch freuen zu hören, dass wir noch leben – vorausgesetzt natürlich, dass sie ihn irgendwann bekommen.«
Da sie sich bewusst waren, wie unruhig die Zeiten waren und wie ungewiss das Überdauern historischer Dokumente, hatten sich Jamie und Roger mehrere Pläne zur Übermittlung von Informationen ausgedacht, angefangen von der Veröffentlichung verschlüsselter Nachrichten in diversen Zeitungen bis hin zu einer komplizierten Methode, die irgendwie mit der Church of Scotland und der Bank of England zusammenhing. All diese Methoden gingen natürlich von der grundlegenden Tatsache aus, dass die Familie MacKenzie die Passage durch die Steine unversehrt überstanden hatte und mehr oder minder in der richtigen Zeit herausgekommen war – aber davon musste ich schon um meines eigenen Seelenfriedens willen ausgehen.
»Aber ich möchte ihn nicht damit beenden müssen, dass ich ihnen – von alldem hier erzähle.« Ich wies kopfnickend auf die verhüllten Gestalten. »Sie haben Mrs Bug gerngehabt – und Brianna würde sich um Ian sorgen.«