Er hörte Brianna die Treppe heraufkommen. Schnell, aber unregelmäßig, als stieße sie gegen die Wände des Treppenhauses, weil sie vor lauter Eile das Gleichgewicht verlor.
Oben kam sie in sein Blickfeld gestolpert, und Roger spürte, wie sich einzelne Haare an seinem Körper aufrichteten, als er ihr weißes Gesicht sah, das ihn anstarrte.
»Er ist fort«, sagte sie heiser. »Martina sagt, bei Bobby ist er nicht; sie hat ihn heute Abend auch gar nicht erwartet. Ich habe sie gebeten, draußen nachzusehen – Rob wohnt drei Häuser weiter. Sie sagt, sein Laster ist weg.«
Rogers Hände waren taub vor Kälte, und gleichzeitig waren sie so verschwitzt, dass sie auf dem Lenkrad abrutschten. Er bog so schnell von der Landstraße ab, dass sich die Räder auf einer Seite leicht von der Straße hoben und der Wagen in Schräglage geriet. William Buccleigh stieß sich den Kopf am Fenster.
»Tut mir leid«, murmelte Roger mechanisch und bekam einen Grunzlaut zur Antwort.
»Aufpassen«, sagte Buccleigh und rieb sich die Schläfe. »Was, wenn wir im Graben landen?«
Ja, was dann? Mit äußerster Anstrengung nahm er den Fuß vom Gas. Es war kurz vor Monduntergang, und der abnehmende Viertelmond erhellte die pechschwarze Landschaft ringsum ohnehin nur spärlich. Die Scheinwerfer des kleinen Morris kratzten die Dunkelheit kaum an; ihr schwacher Strahl schwankte hin und her, während sie wie trunken über den Feldweg rumpelten, der zum Craigh na Dun führte.
»Warum zum Teufel sollte dieser trusdair denn Ihren Sohn entführen?« Buccleigh kurbelte sein Fenster herunter und steckte den Kopf hinaus, ein vergeblicher Versuch, mehr zu sehen, als die verstaubte Windschutzscheibe preisgab. »Und warum, bei allem, was heilig ist, sollte er ihn hierher bringen?«
»Woher soll ich das wissen?«, sagte Roger mit zusammengebissenen Zähnen. »Vielleicht glaubt er ja, dass er Blut braucht, um die Steine zu öffnen. Himmel, warum habe ich das nur geschrieben?« Frustriert hämmerte er mit der Faust auf das Lenkrad.
Buccleigh blinzelte völlig verblüfft, doch sein Blick wurde sofort schärfer.
»Ist es das?«, drängte er. »Geht es so? Mit Blut?«
»Nein, verdammt!«, schnauzte Roger. »Es liegt an der Jahreszeit, und man braucht Edelsteine. Glauben wir.«
»Aber Sie haben Blut aufgeschrieben, mit einem Fragezeichen daneben.«
»Ja, aber – wie meinen Sie das? Haben Sie etwa mein Notizbuch auch gelesen, Sie Mistkerl?«
»Gemach, gemach«, sagte William Buccleigh grimmig, aber kühl. »Natürlich habe ich das. Ich habe alles in Ihrem Studierzimmer gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte – Sie hätten es an meiner Stelle doch genauso gemacht.«
Roger erstickte die Panik, die ihn packte, so weit, dass er ein knappes Nicken zuwege brachte.
»Aye, vielleicht. Und wenn Sie Jem mitgenommen hätten – würde ich Sie umbringen, sobald ich Sie finde, aber ich würde vielleicht Ihren Grund verstehen. Aber dieser Scheißkerl! Was glaubt er denn, was er tut, zum Kuckuck?«
»Beruhigen Sie sich«, riet ihm Buccleigh knapp. »Es wird Ihrem Sohn nichts nützen, wenn Sie den Kopf verlieren. Dieser Cameron – ist er einer von uns?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, verflucht.«
»Aber es gibt noch andere? Es ist nicht nur unsere Familie?«
»Ich weiß es nicht – ich glaube, dass es noch andere gibt, aber ich weiß es nicht genau.« Roger versuchte zu überlegen, versuchte, den Wagen wenigstens so zu fahren, dass er unbeschädigt die Kurven nehmen konnte, die halb mit Ginster überwuchert waren.
Er versuchte zu beten, brachte aber nichts weiter zuwege als ein angsterfülltes, unzusammenhängendes Bitte, Herr!. Er wünschte, Brianna wäre bei ihm, doch sie hätten mit Mandy nicht in die Nähe der Steine gehen können. Und wenn sie noch rechtzeitig kamen, um Cameron zu erwischen – wenn Cameron überhaupt hier war … Buccleigh würde ihm helfen, da war er sich hinreichend sicher.
Ganz im Hinterkopf hegte er die einsame Hoffnung, dass das Ganze ein Missverständnis war, dass Cameron das Datum verwechselt hatte und mit Jem auf dem Heimweg war, während Roger und sein verflixter Ur-ur-ur-ur-urgroßvater im Dunkeln über ein felsiges Moor bretterten, geradewegs auf das Schrecklichste zu, was sie beide je erlebt hatten.
»Cameron – er hat das Notizbuch auch gelesen«, entfuhr es Roger, der seine eigenen Gedanken nicht ertragen konnte. »Durch einen dummen Zufall. Er hat so getan, als dächte er, es wäre alles ein – eine – Geschichte, etwas, das ich zum Spaß erfunden hätte. Himmel, was habe ich getan?«
»Vorsicht!« Buccleigh schleuderte die Arme hoch, und Roger stand auf der Bremse, sodass er von der Straße abkam und gegen einen großen Felsen prallte – und den alten blauen Laster, der dunkel und verlassen an der Straße stand, knapp verfehlte.
Er kletterte den Hügel im Laufschritt hinauf, suchte im Dunkeln mit den Händen Halt, stach sich an den Ginsterdornen, die sich ihm hin und wieder unter die Nägel bohrten, sodass er fluchte. Weit unter sich konnte er hören, wie ihm William Buccleigh folgte. Langsam zwar – doch er folgte ihm.
Er begann, sie zu hören, lange bevor er den Kamm erreichte. Es war drei Tage vor Samhain, und die Steine wussten es. Der Klang, der gar kein Klang war, fuhr ihm vibrierend durch Mark und Bein, sodass ihm der Schädel brummte und ihn die Zähne schmerzten. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte sich weiter. Als er die Steine erreichte, fand er sich auf Händen und Knien wieder, weil er nicht mehr stehen konnte.
Lieber Gott, dachte er, Gott, bewahre mich! Lass mich so lange am Leben, bis ich ihn gefunden habe!
Er konnte kaum noch denken, doch an die Taschenlampe erinnerte er sich noch. Er hatte sie aus dem Auto mitgenommen und zog sie jetzt mit zitternden Fingern aus der Tasche, ließ sie kraftlos fallen, musste panisch im kurzen Gras danach tasten, fand sie schließlich wieder und rutschte viermal mit dem Finger ab, bevor es ihm schließlich gelang, sie einzuschalten.
Plötzlich erhob sich der Lichtstrahl, und hinter sich in der Dunkelheit hörte er einen unterdrückten Ausruf des Erstaunens. Natürlich, dachte er benommen, William Buccleigh hatte noch nie eine Taschenlampe gesehen. Der flackernde Strahl wanderte langsam durch den Kreis und wieder zurück. Wonach suchte er? Fußabdrücke? Irgendetwas, das Jem verloren hatte, das ihm zeigte, dass er hier gewesen war?
Nichts.
Nichts als die Steine. Es wurde schlimmer, und er ließ die Taschenlampe fallen und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Er musste los … musste gehen … musste Jem zurückholen …
Er schleppte sich über das Gras, geblendet vor Schmerz und fast von Sinnen, als ihn kräftige Hände an den Knöcheln packten und ihn zurückschleiften. Er glaubte, vielleicht eine Stimme gehört zu haben, doch falls ja, ging sie unter in dem durchdringenden Kreischen, das in seinem Kopf widerhallte, in seiner Seele, und er rief den Namen seines Sohnes, so laut er konnte, um irgendetwas außer diesem Lärm zu hören, spürte, wie ihm die Anstrengung die Kehle zerfetzte, hörte aber nichts.
Dann bewegte sich die Erde unter ihm, und die Welt fiel von ihm ab.
Fiel, buchstäblich. Als er einige Zeit später zu sich kam, stellte er fest, dass er und William Buccleigh in einer flachen Mulde am Hang des Hügels lagen, fünfzehn Meter unterhalb des Steinkreises. Sie waren gefallen und hinuntergerollt; das konnte er daran ablesen, wie er sich fühlte und wie Buccleigh aussah. Am Himmel zog die Dämmerung herauf, und er konnte Buccleigh voller Kratzer und Schrammen vornübergebeugt neben sich sitzen sehen, als ob er Bauchschmerzen hätte.
»Was …?«, flüsterte Roger. Er räusperte sich und versuchte erneut zu fragen, was geschehen war, brachte aber nicht mehr als ein Flüstern hervor – und selbst dabei brannte seine Kehle wie Feuer.