»Habe ich dir nicht gesagt, dass es schnell geht?«, sagte sie gerade. »Nicht mehr als dreißig Sekunden, habe ich angekündigt, und so war es. Ich habe mitgezählt, nicht wahr?«
»Du zählst aber sehr langsam, Rachel«, sagte der Arzt und lächelte, während er nach seiner Schere griff und den Faden abschnitt. »Man könnte in einer deiner Minuten dreimal die Paulskathedrale umrunden.«
»Quatsch«, sagte sie nachsichtig. »Jedenfalls ist es ja vorbei. Hier, setz dich, und trink einen Schluck Wasser. Du kannst nicht –« Sie hatte sich dem Eimer zugewandt, der neben ihr stand, und jetzt sah sie William dort stehen. Erschrocken öffnete sie den Mund, dann flog sie über die Lichtung, um ihn zu umarmen.
Damit hatte er nicht gerechnet, doch es freute ihn, und er erwiderte ihre Umarmung mit großer Herzlichkeit. Sie roch nach sich selbst und nach Rauch, und sein Blut begann, schneller zu fließen.
»Freund William! Ich dachte, ich sehe dich nie wieder«, sagte sie und trat mit leuchtendem Gesicht zurück. »Was tust du denn hier? Denn ich glaube ja nicht, dass du hier bist, um der Armee beizutreten«, fügte sie hinzu, während sie ihn von oben bis unten betrachtete.
»Nein«, sagte er ziemlich schroff. »Ich bin hier, um einen Gefallen zu erbitten. Von Eurem Bruder«, fügte er etwas verspätet hinzu.
»Oh? Dann komm mit, er ist fast fertig.« Sie führte ihn zu Denny, während sie weiter mit großem Interesse zu ihm aufblickte.
»Dann bist du also in der Tat ein britischer Soldat«, stellte sie fest. »Das haben wir uns schon gedacht, obwohl wir Angst hatten, du könntest ein Deserteur sein. Es freut mich zu sehen, dass dies nicht so ist.«
»Ach ja?«, fragte er nun lächelnd. »Aber es wäre Euch doch gewiss lieber, wenn ich aus dem Militärdienst abdanke und Frieden suche?«
»Natürlich hätte ich gern, dass du Frieden suchst – und ihn auch findest«, sagte sie nüchtern. »Doch du kannst keinen Frieden finden als Eidbrecher und in gesetzloser Flucht, wenn du weißt, dass deine Seele in Lug und Trug ertrinkt, und du um dein Leben fürchten musst. Denny, sieh nur, wer hier ist!«
»Ja, ich habe es schon gesehen. Freund William, schön, dich zu sehen!« Dr. Hunter half seinem frisch verbundenen Patienten auf die Beine und kam dann lächelnd auf William zu. »Habe ich richtig gehört, dass du mich um einen Gefallen bitten möchtest? Wenn es in meiner Macht steht, sei er dir gewährt.«
»Darauf werde ich Euch nicht festnageln«, sagte William grinsend und spürte, wie sich in seinem Nacken ein Knoten löste. »Doch hört mich an, und dann hoffe ich, dass Ihr Euch entschließen werdet zu kommen.«
Wie er schon halb erwartet hatte, widerstrebte es Hunter zunächst, das Feldlager zu verlassen. Es gab nicht viele Feldärzte, und angesichts so vieler Krankheiten durch die Kälte und Überfüllung … Es konnte schließlich eine Woche oder länger dauern, bis er ins Lager zurückkehren konnte … Doch William war so klug zu schweigen. Einmal nur sah er Rachel an, dann blickte er Denzell geradewegs in die Augen.
Wollt Ihr wirklich, dass sie den Winter hier verbringt?
»Du möchtest, dass Rachel mit mir kommt?«, fragte Hunter, der auf der Stelle begriff.
»Ich werde mit dir gehen, ob du es wünschst oder nicht«, mischte Rachel sich ein. »Und das wisst ihr beide sehr gut.«
»Ja«, sagte Denzell gelassen, »aber es erschien mir nur höflich zu fragen. Außerdem sprechen wir hier ja nicht nur von dir. Es –«
William hörte das Ende seines Satzes nicht, denn plötzlich schob sich von hinten etwas Großes zwischen seine Beine, und er stieß einen unmännlichen Heuler aus und sprang vor, um dann herumzufahren und nachzusehen, wer ihn auf diese feige Art und Weise angegriffen hatte.
»Ja, den Hund hatte ich vergessen«, stellte Rachel ungerührt fest. »Er kann zwar inzwischen laufen, doch ich bezweifle, dass er es zu Fuß bis nach Philadelphia schafft. Glaubst du, du kannst seinen Transport arrangieren?«
Er erkannte den Hund sofort. Von dieser Sorte konnte es unmöglich einen zweiten geben.
»Das ist doch Ian Murrays Hund?«, fragte er und hielt dem Hund zögernd die Faust hin, um ihn daran schnüffeln zu lassen. »Wo ist denn sein Herr?«
Die Hunters wechselten einen kurzen Blick, doch Rachel antwortete ihm bereitwillig.
»Schottland. Er hatte mit seinem Onkel Jamie Fraser etwas Dringendes in Schottland zu erledigen. Kennt Ihr Mr Fraser?« William hatte das Gefühl, dass ihn beide Hunters extrem gebannt anstarrten, doch er nickte nur und sagte: »Ich bin ihm vor Jahren einmal begegnet. Warum ist der Hund denn nicht mit seinem Herrn nach Schottland gefahren?«
Wieder dieser Blickwechsel zwischen ihnen. Ging es um Murray?, fragte er sich.
»Der Hund ist verletzt worden, kurz bevor sie abgefahren sind. Freund Ian war so gütig, seinen Begleiter in meiner Obhut zurückzulassen«, antwortete Rachel ruhig. »Kannst du vielleicht einen Wagen besorgen? Ich glaube, dein Pferd würde Rollo nicht mögen.«
Lord John klemmte Henry das Lederstück zwischen die Zähne. Der Junge war halb bewusstlos, weil sie ihm Laudanum verabreicht hatten, doch er nahm immer noch genug von seiner Umgebung wahr, um seinen Onkel schwach anzugrinsen. Grey konnte die Angst spüren, die Henry durchströmte – und er teilte sie. Er hatte ein Gewirr aus Giftschlangen im Bauch, ein beständiges Gefühl, dass sich sein Inneres wand, unterbrochen von plötzlichen Stichen der Panik.
Hunter hatte darauf bestanden, Henrys Arme und Beine am Bett festzubinden, damit sich dieser während der Operation nicht bewegte. Der Tag war leuchtend hell, die Sonne funkelte auf dem gefrorenen Schnee, der die Fenster einrahmte, und sie hatten das Bett so zurechtgeschoben, dass er den größtmöglichen Nutzen aus dieser Lichtquelle zog.
Sie hatten Dr. Hunter von dem Rutengänger erzählt, doch er hatte es höflich abgelehnt, den Mann noch einmal kommen zu lassen. Er meinte, dass dies nach Hexenkunst röche, und wenn er bei diesem Unterfangen Gottes Beistand wünschte, könne er nur aufrichtig darum bitten, wenn solche Künste fernbleiben. Das hatte Mercy Woodcock zwar sehr gekränkt, und sie hatte sich ein wenig aufgeplustert, doch sie hatte dann geschwiegen, zu froh – und zu nervös –, um zu widersprechen.
Grey war zwar nicht abergläubisch, doch er war praktisch veranlagt und hatte sich sorgfältigst gemerkt, wo der Rutengänger die Kugel gefunden hatte.
Dies erklärte er Hunter, der widerstrebend zustimmte. Grey holte ein kleines Lineal zum Abmessen hervor und markierte die Stelle mit ein wenig Kerzenruß auf Henrys Bauch.
»Ich denke, wir sind bereit«, sagte Denzell und trat ans Bett, wo er Henry die Hände auf den Kopf legte und kurz um Beistand für sich selbst betete, um Ausdauer und Heilung für Henry und dann endete, indem er Gott für seine Anwesenheit dankte. Trotz seiner rein rationalen Einstellung spürte Grey, wie die Anspannung im Zimmer ein wenig nachließ, und setzte sich dem Arzt gegenüber nieder. Auch die Schlangen in seinem Bauch gaben vorerst Ruhe.
Er ergriff die schlaffe Hand seines Neffen und sagte ruhig: »Halte dich fest, Henry. Ich lasse dich nicht los.«
Es ging schnell. Grey hatte schon viele Feldärzte bei der Arbeit gesehen und kannte ihre Eile, doch selbst an diesen Maßstäben gemessen, waren Denzell Hunters Geschwindigkeit und Geschicklichkeit bemerkenswert. Grey hatte jedes Zeitgefühl verloren, weil er sich ganz auf die zuckende Umklammerung von Henrys Fingern konzentrierte, auf die Schrille seiner Schreie, die durch den Lederknebel drangen, und auf die Bewegungen des Arztes, flink und brutal und schließlich vorsichtig, während er das Metallstück herauspickte, die Wunde säuberte und sie schließlich vernähte.
Als er die letzten Stiche tat, holte Grey tief Luft, und es schien ihm das erste Mal innerhalb von Stunden zu sein. Und stellte dank der Kaminuhr fest, dass kaum eine Viertelstunde verstrichen war. William und Rachel standen am Kamin, wo sie nicht im Weg waren, und er sah mit Interesse, dass sie sich an den Händen hielten, ihre Fingerknöchel so weiß wie ihre Gesichter.