Hunter prüfte Henrys Atmung, hob seine Augenlider, um einen Blick auf seine Pupillen zu werfen, wischte ihm die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht und fasste an den Puls unter seinem Kinn. Grey konnte ihn sehen, schwach und unregelmäßig, doch immer noch da, ein schmaler blauer Faden unter der wächsernen Haut.
»Nicht schlecht, nicht schlecht, dem Herrn sei Dank, dass er mir Kraft geschenkt hat«, murmelte Hunter. »Rachel, bringst du mir das Verbandszeug?«
Rachel löste sich augenblicklich von William und holte die ordentlichen Stapel der Gazebäusche und Leinenbandagen herbei, zusammen mit einer klebrigen Masse, die grün aus einem Stoffumschlag hervordrang.
»Was ist denn das?«, fragte Grey und zeigte mit dem Finger darauf.
»Ein Umschlag, den mir eine Kollegin empfohlen hat, eine gewisse Mrs Fraser. Ich habe ihn schon bei Verletzungen aller Art Wunder wirken sehen«, versicherte ihm der Arzt.
»Mrs Fraser?«, sagte Grey sichtlich überrascht. »Mrs James Fraser? Wo zum Teu–, ich meine, wo seid Ihr der Dame denn begegnet?«
»In Fort Ticonderoga«, lautete die überraschende Antwort. »Sie und ihr Mann waren während der Schlachten von Saratoga bei der Kontinentalarmee.«
Die Schlangen in Greys Bauch erwachten abrupt.
»Wollt Ihr damit sagen, dass sich Mrs Fraser jetzt in Valley Forge aufhält?«
»Oh, nein.« Hunter schüttelte den Kopf, ganz auf seinen Wundverband konzentriert. »Wenn du ihn bitte etwas anheben würdest, Freund Grey? Ich muss den Verband unter ihm hinwegführen – ah, genau so, danke. Nein«, fuhr er dann fort, während er sich aufrichtete und sich über die Stirn wischte, denn dank der vielen Menschen und des lodernden Feuers im Kamin war es sehr warm im Zimmer. »Nein, die Frasers sind nach Schottland gereist. Obwohl der Neffe der Frasers so gütig war, uns seinen Hund dazulassen«, fügte er hinzu, als sich Rollo jetzt, durch den Blutgeruch neugierig geworden, aus seiner Ecke erhob und Grey die Nase unter den Ellbogen schob. Er schnüffelte interessiert an den blutbefleckten Laken und dann an Henrys nacktem Körper. Dann nieste er heftig, schüttelte den Kopf und tappte zu seinem Liegeplatz zurück, wo er sich genüsslich auf den Rücken drehte und die Pfoten in die Luft streckte.
»Irgendjemand muss im Lauf der nächsten Tage ständig bei ihm sein«, sagte Hunter unterdessen und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. »Er darf auf keinen Fall allein bleiben, für den Fall, dass er aufhört zu atmen. Freund William«, sagte er, an Willie gewandt, »wäre es wohl möglich, eine Bleibe für uns zu finden? Ich würde gern noch ein paar Tage in der Nähe bleiben, um ihn regelmäßig zu besuchen und mich von seinen Fortschritten überzeugen zu können.«
William versicherte ihm, dass man sich darum bereits gekümmert habe: ein höchst respektables Gasthaus und – bei diesen Worten fiel sein Blick auf Rachel – ganz in der Nähe. Ob er die Hunters dorthin begleiten dürfe? Oder Ms Rachel, falls ihr Bruder hier noch nicht ganz fertig sei?
Grey war klar, dass Willie nichts lieber gewesen wäre, als allein mit dieser hübschen Quäkerin durch die schneeglitzernde Stadt zu reiten. Doch Mrs Woodcock machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem sie anmerkte, dass doch Weihnachten sei; sie hätte zwar weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, ein großartiges Mahl zuzubereiten, doch würden der Herr und die Dame ihr nicht die Ehre erweisen, ein Glas Wein auf Leutnant Greys Genesung zu trinken?
Das hielten alle für eine fabelhafte Idee, und Grey erklärte sich bereit, bei seinem Neffen sitzen zu bleiben, während man Wein und Gläser holte.
Ohne all diese Menschen fühlte es sich plötzlich kälter im Zimmer an. Eigentlich sogar geradezu kalt, und Grey zog Henry sowohl das Laken als auch die Bettdecke vorsichtig über den einbandagierten Bauch.
»Es wird alles gut, Henry«, flüsterte er, obwohl sein Neffe die Augen geschlossen hatte und er glaubte, dass der junge Mann schlief – hoffte, dass er es tat.
Doch er schlief nicht. Henrys Augen öffneten sich langsam, und seinen Pupillen war die Wirkung des Opiums noch anzusehen, während seine verzerrten Augenwinkel von dem Schmerz kündeten, den das Opium nicht überdecken konnte.
»Nein, das wird es nicht«, sagte er mit schwacher, klarer Stimme. »Er hat nur eine erwischt. Die zweite Kugel wird mich umbringen.«
Seine Augen schlossen sich wieder, und weihnachtliche Fröhlichkeit drang die Treppe herauf. Der Hund seufzte.
Rachel Hunter legte eine Hand auf ihren Bauch, hob sich die andere an den Mund und unterdrückte den Rülpser, der in ihr aufstieg.
»Völlerei ist eine Sünde«, sagte sie. »Aber sie bringt ihre eigene Strafe mit sich. Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
»Alle Sünden tun das«, erwiderte ihr Bruder geistesabwesend und tauchte seinen Federkiel ein. »Aber du bist kein Vielfraß. Ich habe dich essen sehen.«
»Aber ich platze gleich!«, protestierte sie. »Und außerdem muss ich immerzu daran denken, was für ein armseliges Weihnachtsfest die Männer erleben, die wir in Valley Forge zurückgelassen haben, verglichen mit der … der … Dekadenz unserer heutigen Mahlzeit.«
»Nun, das ist ein schlechtes Gewissen, keine Völlerei, und noch dazu ist es unangebracht. Du hast nicht mehr gegessen, als eine normale Mahlzeit ausmacht; nur, dass du seit Monaten keine mehr gegessen hast. Und ich glaube, Gänsebraten ist im Übrigen noch nicht der Gipfel der Dekadenz, selbst wenn er mit Austern und Kastanien gefüllt war. Wäre es natürlich ein mit Trüffeln gefüllter Fasan gewesen oder ein Wildschwein mit einem goldenen Apfel im Maul …« Er lächelte ihr über seine Papiere hinweg zu.
»Du hast solche Dinge gesehen?«, fragte sie neugierig.
»Das habe ich, ja. Als ich in London bei John Hunter studiert habe. Er hat sich viel in der feinen Gesellschaft bewegt und hat mich manchmal zu einem Patienten mitgenommen. Oder ich habe ihn und seine Frau zu einem gesellschaftlichen Ereignis begleitet – sehr gütig von ihm. Doch wie du weißt, dürfen wir die Menschen nicht nur nach ihrer Erscheinung beurteilen. Selbst ein Mensch, der uns frivol, verschwenderisch oder töricht erscheint, hat eine Seele und besitzt für Gott einen Wert.«
»Ja«, sagte sie vage, ohne ihm wirklich zuzuhören. Sie zog den Vorhang vom Fenster zurück und sah die Straße als weiße Masse unter sich. Eine Laterne an der Tür des Gasthauses warf zwar einen kleinen Lichtkreis, doch es schneite immer noch. Rachels Gesicht schwebte über die Fensterscheibe hinweg, schmal und mit großen Augen, und sie betrachtete es stirnrunzelnd und schob eine schwarze Locke unter ihre Haube zurück.
»Glaubst du, er weiß es?«, fragte sie abrupt. »Freund William?«
»Er weiß was?«
»Wie auffallend ähnlich er James Fraser sieht«, sagte sie und ließ den Vorhang wieder sinken. »Du glaubst doch nicht, dass das Zufall ist?«
»Ich glaube, dass es uns nichts angeht.« Denny kratzte weiter mit seinem Federkiel über das Papier.
Sie stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. Er hatte recht, doch das bedeutete ja nicht, dass sie nicht beobachten und sich wundern durfte. Es hatte sie mehr als nur gefreut, William wiederzusehen, und obwohl sie ja schon vermutet hatte, dass er ein britischer Soldat war, hatte es sie überrascht festzustellen, dass er ein hochrangiger Offizier war. Und war mehr als überrascht, von der Ordonnanz mit dem schurkischen Aussehen zu erfahren, dass er ein Adeliger war, obwohl das zwergenhafte Geschöpf nicht sagen konnte, welcher Art.
Es konnte doch nicht möglich sein, dass zwei Männer, die einander so ähnlich sahen, nicht auch irgendwelche engen Blutsbande miteinander teilten. Sie hatte James Fraser ja oft gesehen und seine hochgewachsene, aufrechte Würde bewundert, war ein wenig vor der Heftigkeit in seiner Miene erbebt, und hatte immer das nagende Gefühl gehabt, ihn irgendwoher zu kennen – doch erst als William plötzlich im Feldlager vor ihr aufgetaucht war, hatte sie begriffen, warum. Doch wie konnte ein englischer Lord irgendwie mit einem schottischen Jakobiten verwandt sein, einem begnadigten Kriminellen? Denn Ian hatte ihr ein wenig von der Geschichte seiner Familie erzählt – wenn auch nicht genug; nicht annähernd genug.