»Du denkst ja schon wieder an Ian Murray«, stellte ihr Bruder fest, ohne von seinem Papier aufzublicken. Er klang resigniert.
»Ich dachte, du hast der Hexenkunst abgeschworen«, sagte sie schnippisch. »Oder zählt das Gedankenlesen für dich nicht dazu?«
»Wie ich feststelle, leugnest du es nicht.« Jetzt hob er den Kopf und schob sich die Brille auf der Nase hoch, um Rachel besser ansehen zu können.
»Nein, ich leugne es nicht«, gestand sie. »Woran hast du es denn erkannt?«
»Du hast den Hund angesehen und auf eine Weise geseufzt, die ein Gefühl verraten hat, das üblicherweise nicht zwischen einer Frau und einem Hund existiert.«
»Hmpf!«, sagte sie bestürzt. »Nun, und was, wenn ich an ihn denke? Ist das nicht meine eigene Angelegenheit? Mich zu fragen, wie es ihm wohl geht, was seine Familie in Schottland zu ihm sagt? Ob er das Gefühl hat, dorthin heimgekehrt zu sein?«
»Ob er zurückkommen wird?« Denny setzte die Brille ab und rieb sich das Gesicht. Er war müde; sie konnte ihm den langen Tag ansehen.
»Er wird zurückkommen«, sagte sie gleichmütig. »Er würde seinen Hund doch nicht im Stich lassen.«
Das brachte ihren Bruder zum Lachen, was sie sehr verärgerte.
»Ja, wahrscheinlich kommt er zurück, um den Hund zu holen«, pflichtete er ihr grinsend bei. »Und wenn er mit einer Frau zurückkommt, Schwesterchen?« Seine Stimme war jetzt sanft, und sie drehte sich zum Fenster um, damit er nicht sehen konnte, dass diese Frage sie verstörte. Nicht dass er es sehen musste, um es zu wissen.
»Vielleicht wäre es ja das Beste für dich, wenn er das täte, Rachel.« Dennys Stimme war immer noch sanft, doch sie hatte einen warnenden Unterton. »Du weißt ja, dass er ein Mann der Gewalt ist.«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«, fuhr sie ihn an, ohne sich umzudrehen. »William heiraten?«
Aus der Richtung des Schreibtischs kam kurzes Schweigen.
»William«, echote Denny, und er klang verblüfft. »Empfindest du denn etwas für ihn?«
»Ich – natürlich empfinde ich Freundschaft für ihn. Und Dankbarkeit«, fügte sie hastig hinzu.
»Das tue ich auch«, stellte ihr Bruder fest, »doch auf die Idee, ihn zu heiraten, bin ich noch nicht gekommen.«
»Du bist eine völlig unmögliche Person«, sagte sie gereizt. Sie wandte sich um und funkelte ihn an. »Kannst du nicht wenigstens einmal einen Tag darauf verzichten, dich über mich lustig zu machen?«
Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch ein Geräusch von draußen lenkte sie ab, und sie drehte sich wieder zum Fenster um und zog den schweren Vorhang beiseite. Ihr Atem vernebelte die dunkle Scheibe, und sie rieb ungeduldig mit dem Ärmel darüber – und sah, wie unten eine Sänfte hielt. Ihre Tür öffnete sich, und eine Frau trat in den wirbelnden Schnee hinaus. Sie war in Pelze gekleidet und hatte es eilig; sie reichte einem der Sänftenträger eine Geldbörse und huschte in das Gasthaus.
»Das ist aber seltsam«, staunte Rachel, die sich umwandte, um ihre Augen zuerst auf ihren Bruder und dann auf die kleine Uhr zu richten, die im Zimmer hing. »Wer geht denn am Weihnachtsabend um neun Uhr jemanden besuchen? Das kann doch keiner von den Freunden sein?« Denn die Quäker feierten zwar das Weihnachtsfest nicht, und es würde sie daher nicht von einer Reise abhalten, doch die Hunters hatten keine Verbindungen – noch nicht – zu irgendwelchen Freunden aus Philadelphia.
Hastige Schritte auf der Treppe hielten Denzell von einer Antwort ab, und in der nächsten Sekunde flog die Tür des Zimmers auf. Die Frau mit dem Umhang stand auf der Schwelle, so weiß wie ihre Pelze.
»Denny?«, sagte sie mit erstickter Stimme.
Ihr Bruder sprang auf, als hätte ihm jemand eine glühende Kohle an den Hosenboden gehalten, und warf die Tinte um.
»Dorothea!«, rief er, und mit einem Satz hatte er das Zimmer durchquert und die pelzgekleidete Frau leidenschaftlich in die Arme geschlossen.
Rachel stand da wie gebannt. Die Tinte tropfte vom Tisch auf den bemalten Segeltuchteppich, und sie hatte das Gefühl, etwas dagegen tun zu sollen. Ihr Mund stand vor lauter Verblüffung offen, und sie hatte das Gefühl, ihn schließen zu sollen, und das tat sie auch. Die Tinte jedoch tropfte weiter auf den Teppich.
Und ganz plötzlich verstand sie den Impuls, der die Leute zu gotteslästerlichen Flüchen verleitete.
Rachel hob die Brille ihres Bruders vom Boden auf und behielt sie in der Hand, während sie darauf wartete, dass er sich von der Frau löste. Dorothea, dachte sie. Das ist also die Frau – aber ist das nicht Williams Cousine? Denn William hatte seine Cousine auf dem Ritt nach Philadelphia erwähnt. Die Frau war sogar im Haus gewesen, als Denny seine Operation durchführte – aber dann musste Henry Grey ja der Bruder dieser Frau sein! Sie hatte sich in der Küche versteckt, als Rachel und Denny heute Nachmittag in ihrem Haus gewesen waren. Warum …? Natürlich; es war weder Zimperlichkeit noch Angst, sondern der Wunsch, Denny lieber nicht gegenüberzutreten, während er sich auf dem Weg zu einer gefährlichen Operation befand.
Das verbesserte ihre Meinung von der Frau, obwohl ihr noch nicht danach war, sie ebenfalls an ihren Busen zu drücken und sie Schwester zu rufen. Sie bezweifelte außerdem, dass die Frau ihr gegenüber so empfand – obwohl es gut möglich war, dass sie Rachel noch gar nicht bemerkt, geschweige denn irgendwelche Schlüsse über sie gezogen hatte.
Denny ließ die Frau los und trat zurück, obwohl er es der Miene seines leuchtenden Gesichtes nach kaum ertragen konnte, sie nicht zu berühren.
»Dorothea«, sagte er. »Was in aller Welt willst du –«
Doch er wurde unterbrochen; die junge Frau – sie war sehr hübsch, wie Rachel jetzt sah – trat einen Schritt zurück und ließ ihren eleganten Hermelinumhang zu Boden fallen. Rachel blinzelte. Die junge Frau trug einen Sack. Es gab keine andere Bezeichnung dafür, obwohl sie beim näheren Hinsehen feststellte, dass er Ärmel hatte. Doch er bestand aus einem groben grauen Stoff und hing der jungen Frau so von den Schultern, dass er ihren Körper kaum an einer anderen Stelle berührte.
»Ich werde Quäkerin werden, Denny«, sagte sie und hob das Kinn. »Ich habe es mir überlegt.«
Dennys Gesicht zuckte, und Rachel glaubte, dass er sich selbst nicht entscheiden konnte, ob er lachen, weinen oder seine Geliebte wieder in ihren Umhang hüllen sollte. Da es ihr missfiel, etwas so Schönes achtlos auf dem Boden liegen zu sehen, bückte sich Rachel und hob den Umhang eigenhändig auf.
»Du – Dorothea?«, begann er hilflos von Neuem. »Bist du dir da sicher? Ich glaube nicht, dass du etwas von den Freunden verstehst.«
»Gewiss tue ich das. Du – ihr seht Gott in jedem Menschen, sucht Frieden in Gott, habt der Gewalt abgeschworen und tragt unansehnliche Kleider, um euch nicht mit den Eitelkeiten der Welt abzulenken. Ist das nicht richtig?«, erkundigte sich Dorothea nervös. Lady Dorothea, verbesserte sich Rachel. William hatte gesagt, sein Onkel sei Herzog.
»Nun … mehr oder weniger, ja«, sagte Denny, und seine Lippen zuckten, während er sie von oben bis unten betrachtete. »Hast du … dieses Gewand selbst genäht?«
»Ja, natürlich. Stimmt etwas nicht damit?«
»Oh, nein«, sagte er, und es klang ein wenig erstickt. Dorothea sah ihn scharf an und richtete den Blick dann auf Rachel, die sie endlich zu bemerken schien.
»Was habe ich falsch gemacht?«, wandte sie sich flehend an Rachel, und Rachel sah den Puls in ihrem glatten weißen Hals schlagen.
»Nichts«, sagte sie und kämpfte ihrerseits mit dem Bedürfnis zu lachen. »Doch es ist den Freunden durchaus gestattet, Kleider zu tragen, die ihnen passen. Du brauchst dich nicht mit Absicht zu verunstalten, meine ich.«