»Oh, ich verstehe.« Lady Dorothea warf einen nachdenklichen Blick auf Rachels adrettes Ensemble aus Rock und Jäckchen, das zwar aus nussbraunem grobem Leinen bestand, ihr aber zweifellos gut passte – und ihr auch genauso gut stand, wenn sie das sagen durfte.
»Nun, dann ist es ja gut«, sagte Lady Dorothea. »Ich werde es hier und da einfach ein bisschen abnähen.« Ohne weiter darüber nachzudenken, trat sie wieder vor und nahm Denny bei den Händen.
»Denny«, sagte sie leise. »Oh, Denny. Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen.«
»Das dachte ich auch«, sagte er, und Rachel sah, wie in seinem Gesicht ein erneutes Ringen vonstattenging – zwischen Pflichtgefühl und Sehnsucht, und ihr Herz schmerzte um seinetwillen. »Dorothea … du kannst hier nicht bleiben. Dein Onkel –«
»Er weiß nicht, dass ich aus dem Haus gegangen bin. Ich gehe ja zurück«, versicherte ihm Dorothea. »Sobald zwischen uns alles abgesprochen ist.«
»Abgesprochen«, wiederholte er und entzog ihr mit sichtlicher Überwindung seine Hände. »Du meinst –«
»Möchtest du einen Schluck Wein?«, mischte sich Rachel ein und griff nach der Karaffe, die der Bedienstete für sie hatte stehen lassen.
»Ja, danke. Er auch«, sagte Dorothea und lächelte Rachel an.
»Ich vermute, er wird ihn dringend brauchen«, murmelte Rachel mit einem Blick auf ihren Bruder.
»Dorothea«, sagte Denny hilflos und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Ich weiß, was du meinst. Aber es geht ja nicht nur darum, dass du den Freunden beitrittst – falls das überhaupt … möglich ist.«
Sie richtete sich auf, stolz wie eine Herzogin.
»Zweifelst du etwa an meiner Aufrichtigkeit, Denzell Hunter?«
»Äh … eigentlich nicht. Ich glaube nur, dass du die Angelegenheit vielleicht nicht hinreichend bedacht hast.«
»Das glaubst du also!« Die Röte stieg Lady Dorothea in die Wangen, und sie funkelte Denny an. »Dann lasse ich dich hiermit wissen, dass ich nichts anderes getan habe, als zu denken, seit du London verlassen hast. Wie zum Teufel glaubst du denn, dass ich hierhergekommen bin?«
»Du hast veranlasst, dass man deinen Bruder in den Bauch schießt?«, erkundigte sich Denny. »Das erscheint mir doch ein wenig gewissenlos und nicht unbedingt Erfolg versprechend.«
Lady Dorothea holte ein paarmal durch die Nase Luft und betrachtete ihn.
»Also, weißt du«, sagte sie in ganz vernünftigem Ton, »wäre ich nicht die perfekte Quäkerin, würde ich dich jetzt ohrfeigen. Doch das habe ich nicht getan, oder? Danke, meine Liebe«, sagte sie zu Rachel und nahm den Wein entgegen. »Du bist also seine Schwester?«
»Nein, das hast du nicht«, räumte Denzell argwöhnisch ein, ohne Rachel zu beachten. »Doch selbst wenn wir einmal – der Form halber«, fügte er mit einem Hauch seines üblichen Humors hinzu, »davon ausgehen, dass Gott in der Tat zu dir gesprochen und gesagt hat, dass du dich uns anschließen sollst, bleibt immer noch deine Familie.«
»Es gibt nichts in euren Glaubenssätzen, das vorschreibt, dass mein Vater meiner Hochzeit zustimmt«, fuhr sie ihn an. »Ich habe mich erkundigt.«
Denny blinzelte.
»Bei wem denn?«
»Priscilla Unwin. Sie ist ein Quäkerin aus London, die ich kenne. Du kennst sie auch; sie hat gesagt, du hättest einen Abszess am Hintern ihres kleinen Bruders geöffnet.«
An diesem Punkt kam Denny zu Bewusstsein – vielleicht weil ihm die Augen aus dem Kopf quollen, während er Lady Dorothea ansah, dachte Rachel nicht unbedingt belustigt –, dass er keine Brille trug. Er hob den Finger, um sie höherzuschieben, dann hielt er inne und sah sich blinzelnd um. Mit einem Seufzer trat Rachel vor und setzte sie ihm auf. Dann ergriff sie das zweite Weinglas und reichte es ihm.
»Sie hat recht«, sagte sie zu ihm. »Du kannst den Wein wirklich dringend brauchen.«
»Das Ganze«, sagte Lady Dorothea, »führt ja offensichtlich zu nichts.« Sie sah aus wie eine Frau, die es nicht gewohnt war, dass die Dinge zu nichts führten, dachte Rachel, doch sie behielt die Beherrschung. Andererseits war sie nicht einmal annähernd so weit, dass sie Dennys Drängen nachgegeben und nach Hause gegangen wäre.
»Ich gehe nicht zurück«, sagte sie in völlig vernünftigem Ton, »denn wenn ich es tue, schleichst du dich wieder zur Kontinentalarmee, weil du glaubst, dass ich dir dorthin nicht folgen werde.«
»Das würdest du doch wohl nicht im Ernst tun?«, sagte Denny, und Rachel glaubte, eine Spur von Hoffnung in dieser Frage wahrzunehmen, war sich aber nicht sicher, was für eine Art von Hoffnung.
Lady Dorothea betrachtete ihn mit großen blauen Augen.
»Ich bin dir über den ganzen vermaledeiten Ozean gefolgt. Du glaubst, eine verdammte Armee könnte mich aufhalten?«
Denny rieb sich den Nasenrücken.
»Nein«, räumte er ein. »Das glaube ich nicht. Deshalb bin ich ja auch noch hier. Ich würde nicht wollen, dass du mir folgst.«
Lady Dorothea schluckte hörbar, hielt das Kinn aber tapfer erhoben.
»Warum«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig, »warum würdest du nicht wollen, dass ich dir folge?«
»Dorothea«, sagte er so sanft wie möglich. »Abgesehen von der Tatsache, dass es dich mit deiner Familie in Konflikt bringen würde, wenn du mich begleitest – ist es eine Armee. Außerdem ist es eine sehr arme Armee, der es an jedem denkbaren Komfort mangelt – Kleider, Betten, Schuhe und Nahrung. Darüber hinaus ist es eine Armee an der Schwelle der vernichtenden Niederlage. Es ist kein Ort für dich.«
»Ach – und es ist ein Ort für deine Schwester?«
»Nein, das ist es nicht«, sagte er. »Aber –« Er hielt inne, weil er offenbar bemerkte, dass er im Begriff war, in eine Falle zu laufen.
»Aber mich kannst du nicht daran hindern, mit dir zu gehen.« Ganz liebenswürdig ließ Rachel die Falle zuschnappen. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie dieser Fremden helfen sollte, doch sie bewunderte Lady Dorotheas Kampfgeist.
»Und mich auch nicht«, sagte Dorothea entschlossen.
Denny rieb sich mit drei Fingern die Stelle zwischen den Augenbrauen und schloss die Augen, als hätte er Schmerzen.
»Dorothea«, sagte er. Er ließ die Hand sinken und richtete sich auf. »Ich bin zu meinem Tun berufen, und das geht nur den Herrn und mich etwas an. Rachel begleitet mich nicht nur deshalb, weil sie so stur ist, sondern auch, weil ich für sie verantwortlich bin; sie kann sonst nirgendwohin.«
»O doch«, sagte Rachel hitzig. »Du hast gesagt, du sorgst dafür, dass ich bei Freunden unterkomme, wenn ich das möchte. Ich möchte es aber nicht.«
Bevor Denny sich noch etwas anderes einfallen lassen konnte, streckte Lady Dorothea die Hand zu einer dramatischen Geste aus.
»Ich habe eine Idee«, verkündete sie.
»Ich habe große Angst zu fragen, was es ist«, sagte Denny, und das klang aufrichtig.
»Ich nicht«, sagte Rachel. »Was denn?«
Dorothea blickte vom einen zur anderen. »Ich war bei einer Quäkerzusammenkunft. Zwei sogar. Ich weiß, wie es geht. Lasst uns eine Zusammenkunft abhalten und den Herrn darum bitten, uns zu lenken.«
Denny klappte der Mund auf, sehr zu Rachels Belustigung. Ihr gelang es nur selten, ihren Bruder so zu verblüffen, dass es ihm die Sprache verschlug. Allmählich bekam sie Freude daran, Dorothea dabei zu beobachten.
»Das –«, begann er und klang verdattert.
»Ist eine hervorragende Idee«, führte Rachel seinen Satz zu Ende und rückte bereits einen weiteren Stuhl vor den Kamin.
Denny konnte ihnen kaum widersprechen. Mit bemerkenswert fassungsloser Miene nahm er Platz, wobei Rachel nicht entging, dass er sich gegenüber von Dorothea setzte. Sie war sich nicht sicher, ob er Angst davor hatte, zu dicht bei ihr zu sitzen – und womöglich von ihrer bloßen Gegenwart überwältigt zu werden –, oder ob er einfach nur die bessere Aussicht hatte, wenn er ihr gegenübersaß.
Allmählich kamen sie zur Ruhe, machten es sich bequem und verstummten. Rachel schloss die Augen, sah die warme Röte des Feuers auf der Innenseite ihrer Augenlider, spürte die Wärme an Händen und Füßen. Sie bedankte sich wortlos dafür, denn sie hatte die immerwährende beißende Kälte des Feldlagers nicht vergessen, die ihr die Finger- und Zehennägel in Brand setzte, und das fortwährende Zittern, das zwar nachließ, aber nicht ganz aufhörte, wenn sie sich nachts in ihre Decken hüllte, sodass ihre Muskeln vor Erschöpfung schmerzten. Es war kein Wunder, dass Denny nicht wollte, dass Dorothea ihm folgte. Sie selbst wollte nicht zurück, hätte fast alles gegeben, um nicht zurückzugehen – alles außer Dennys Wohlergehen. Sie hasste es zu hungern und zu frieren, doch es wäre schlimmer, warm und satt zu sein und zu wissen, dass er allein litt.