Hatte Lady Dorothea die geringste Ahnung, wie es sein würde?, fragte sie sich und öffnete die Augen. Dorothea saß still, aber aufrecht da, die eleganten Hände auf dem Schoß gefaltet. Wahrscheinlich stellte sich Denny ja gerade diese Hände rot gefroren und voller Blasen vor, wie es Rachel tat, das hübsche Gesicht eingefallen vor Hunger und fleckig vor Schmutz und Kälte.
Dorotheas Augen wurden von ihren Lidern überschattet, doch Rachel war sich sicher, dass sie Denny ansah. Sie war hier ein beträchtliches Risiko eingegangen, dachte Rachel. Denn was, wenn der Herr zu Denny sprach und ihm sagte, dass es unmöglich war, dass er sie fortschicken sollte? Was, wenn der Herr gerade zu Dorothea sprach, dachte sie plötzlich, oder wenn Er es bereits getan hatte? Dieser Gedanke bestürzte Rachel sehr. Nicht dass die Freunde der Meinung waren, der Herr würde ausschließlich zu ihnen sprechen; sie waren sich nur nicht sicher, dass andere ihm besonders oft zuhörten.
Hatte sie selbst denn zugehört? Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie es nicht getan hatte. Und sie wusste auch, warum: weil sie nicht hören wollte, wovon sie befürchtete, dass sie es unweigerlich hören würde – dass sie sich von Ian Murray abwenden und die Gedanken an ihn aufgeben musste, die ihr in der Kälte des Waldes den Körper wärmten und die Träume erhitzten, so sehr, dass sie manchmal erwachte und sich sicher war, dass der Schnee auf ihrer Handfläche verdampfen würde, wenn sie die Hand ins Freie streckte.
Sie schluckte krampfhaft und schloss die Augen, während sie versuchte, sich der Wahrheit zu öffnen, auch wenn sie aus Angst davor zitterte.
Doch alles, was sie hörte, war ein beständiges Hecheln, und im nächsten Moment stieß ihr Rollo seine feuchte Nase in die Hand. Bestürzt kratzte sie ihm die Ohren. Es schickte sich zwar gewiss nicht, das bei einer Zusammenkunft zu tun, doch er würde nicht aufhören, sie anzustupsen, bis sie nachgab, das wusste sie. Er schloss wohlig die gelben Augen und legte ihr seinen schweren Kopf auf das Knie.
Der Hund liebt ihn, dachte sie und strich ihm sanft durch den dichten, drahtigen Pelz. Kann er denn ein schlechter Mensch sein, wenn das so ist? Es war nicht Gott, dessen Antwort sie hörte, sondern ihr Bruder, der gewiss sagen würde: Hunde sind zwar wunderbare Geschöpfe, doch ich glaube nicht, dass sie besonders gute Menschenkenner sind.
Ich aber schon, dachte sie. Ich weiß, was er ist – und ich weiß, was er sein könnte. Sie richtete den Blick auf Dorothea, die reglos in ihrem grauen Sackkleid dasaß. Lady Dorothea war bereit, ihr früheres Leben und sehr wahrscheinlich auch ihre Familie aufzugeben, um sich um Dennys willen den Freunden anzuschließen. War es nicht möglich, fragte sie sich, dass sich Ian Murray um ihretwillen von der Gewalt abwandte?
Nun, was für ein stolzer Gedanke, tadelte sie sich. Was glaubst du denn, welche Macht du besitzt, Rachel Mary Hunter? Niemand besitzt solche Macht außer dem Herrn.
Doch der Herr besaß sie. Und wenn der Herr es wollte, war alles möglich. Rollos Rute bewegte sich sacht und klopfte dreimal auf den Boden.
Denzell Hunter richtete sich im Sitzen ein wenig auf. Es war eine kaum merkliche Bewegung, doch da sie der völligen Reglosigkeit entsprang, überraschte sie die beiden Frauen, die wie aufgeschreckte Vögel die Köpfe hoben.
»Ich liebe dich, Dorothea«, sagte er. Er sprach sehr leise, doch seine sanften Augen brannten hinter den Brillengläsern, und Rachel spürte einen Schmerz in ihrer Brust. »Willst du mich heiraten?«
Kapitel 87
Trennung und Wiedersehen
20. April 1778
Für eine Atlantiküberquerung – und nach unseren Abenteuern mit den Kapitänen Roberts, Hickman und Stebbings betrachtete ich mich als Expertin in Schiffskatastrophen – fiel die Reise nach Amerika extrem langweilig aus. Einmal kamen wir in die Nähe eines englischen Kriegsschiffs, das wir aber glücklicherweise abhängen konnten; wir gerieten in zwei Gewitter und einen gewaltigen Sturm, zum Glück jedoch, ohne zu sinken. Und das Essen war zwar grauenhaft, doch ich war viel zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, um mehr als die Maden aus dem Zwieback zu schütteln, bevor ich ihn aß.
Meine Gedanken galten zur Hälfte der Zukunft: Marsalis und Fergus’ heikler Situation, Henri-Christians lebensgefährlichem Zustand und den praktischen Voraussetzungen für seine Behebung. Die andere Hälfte – nun ja, sieben Achtel, um ehrlich zu sein – war noch in Lallybroch bei Jamie.
Ich fühlte mich wund und angeschlagen. An einer lebensgefährlichen Stelle abgeschnitten, wie immer, wenn ich länger von Jamie getrennt war, doch gleichzeitig auch, als wäre ich mit Gewalt von daheim vertrieben worden wie eine Seepocke, die man von ihrem Felsen gerissen und achtlos in die kochende Brandung geworfen hatte.
Zum Großteil jedoch lag es an Ians bevorstehendem Tod. Ian war so sehr Teil von Lallybroch, seine Anwesenheit dort eine solche Konstante – und jahrein, jahraus ein solcher Trost für Jamie gewesen –, dass sein Verlust in gewisser Weise dem Verlust Lallybrochs gleichkam. Merkwürdigerweise machte ich mir kaum Gedanken über Jennys Worte, so verletzend diese auch gewesen waren; zu gut kannte ich diesen panischen Schmerz, diese Verzweiflung, die man in Wut verwandelte, weil man nur so am Leben bleiben konnte. Und eigentlich verstand ich ihre Gefühle auch, weil ich sie teilte: irrational oder nicht, ich fühlte mich, als wäre es meine Pflicht gewesen, Ian zu helfen. Was nützte all mein Wissen, all mein Können, wenn ich nicht helfen konnte, wo Hilfe wirklich vonnöten war?
Dieses Gefühl des Verlustes – und der nagenden Schuld – wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass ich nicht dabei sein konnte, als Ian starb, dass ich bei unserem letzten Abschied genau gewusst hatte, dass ich ihn nicht wiedersehen würde … dass ich nicht in der Lage gewesen war, ihm Trost oder Erleichterung zu bringen oder bei Jamie oder seiner Familie zu sein, als der Schlag fiel – oder einfach nur bei seinem Tod zugegen zu sein.
Auch der jüngere Ian spürte dies, sogar noch stärker. Ich traf ihn oft am Heck an, wo er voll Kummer in das Kielwasser des Schiffes starrte.
»Glaubst du, er ist schon tot?«, fragte er mich einmal abrupt, als ich mich dort zu ihm setzte. »Pa?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich aufrichtig. »Eigentlich würde ich es annehmen, aber manche Menschen halten erstaunlich lange durch. Wann hat er Geburtstag, weißt du das?«
Er sah mich verblüfft an. »Irgendwann im Mai, ungefähr zur gleichen Zeit wie Onkel Jamie. Warum?«
Ich zuckte mit den Achseln und zog das Schultertuch fester um mich, denn der Wind war kalt.
»Oft scheinen Menschen, die sehr krank sind, aber bald Geburtstag haben, mit dem Sterben zu warten, bis er vorüber ist. Ich habe einmal eine Studie darüber gelesen. Aus irgendeinem Grund ist es noch wahrscheinlicher, wenn es sich um eine Berühmtheit handelt.«
Das brachte ihn zum Lachen, wenn auch schmerzerfüllt.
»Das ist Pa natürlich nie gewesen.« Er seufzte. »Ich wünschte nur, ich wäre bei ihm geblieben. Ich weiß, dass er gesagt hat, ich soll gehen – und ich wollte auch gehen«, fügte er aufrichtig hinzu. »Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich es getan habe.«