Ich seufzte ebenfalls. »Ich genauso.«
»Aber du musstest doch gehen«, protestierte er. »Du konntest doch nicht zulassen, dass der arme kleine Henri-Christian erstickt. Pa hat das verstanden, das weiß ich ganz bestimmt.«
Ich lächelte über diesen gut gemeinten Versuch, mich aufzumuntern.
»Er hat auch verstanden, warum du gehen musstest.«
»Aye, ich weiß.« Er schwieg eine Weile und sah der Furche des Kielwassers zu; es war ein windiger Tag, und das Schiff kam gut voran, obwohl die See aufgewühlt war und voller weißer Häubchen. »Ich wünschte –«, sagte er plötzlich, dann hielt er inne und schluckte. »Ich wünschte, Pa hätte Rachel kennenlernen können«, sagte er leise. »Ich wünschte, sie könnte ihn kennenlernen.«
Ich stieß einen mitfühlenden Laut aus. Zu gut erinnerte ich mich an die Jahre, in deren Verlauf ich zugesehen hatte, wie Brianna heranwuchs, und es mich geschmerzt hatte, dass sie ihrem Vater nie begegnen würde. Und dann war ein Wunder geschehen – doch für Ian würde es kein Wunder geben.
»Ich weiß, dass du deinem Pa von Rachel erzählt hast – er hat es mir wiederum erzählt, und er war so glücklich, von ihr zu hören.« Das brachte ihn zum Lächeln. »Hast du Rachel von deinem Vater erzählt? Von deiner Familie?«
»Nein.« Er klang verblüfft. »Nein, das habe ich nie getan.«
»Nun, du brauchst ja nur – was ist?« Seine Stirn hatte sich verfinstert, und sein Mund hatte sich nach unten verzogen.
»Ich … Eigentlich nichts. Mir ist nur gerade eingefallen – ich habe ihr überhaupt nichts erzählt. Ich meine, wir … Eigentlich haben wir uns gar nicht unterhalten, aye? Ich habe hin und wieder mit ihr gesprochen und sie mit mir, aber das waren nur Alltäglichkeiten. Und dann haben wir – habe ich sie geküsst, und … Nun, das war mehr oder weniger alles.« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Aber ich habe sie nie gefragt. Ich war mir einfach nur sicher.«
»Und jetzt bist du es nicht mehr?«
Er schüttelte den Kopf, und seine braunen Haare wehten im Wind.
»Oh, nein, Tante Claire; ich bin mir dessen, was zwischen uns ist, so sicher wie … wie …« Er sah sich auf dem schwankenden Deck nach einem Symbol der Beständigkeit um, doch dann gab er auf. »Nun, ich bin mir dessen, was ich fühle, sicherer, als ich mir bin, dass morgen die Sonne aufgeht.«
»Ich bin mir sicher, dass sie das weiß.«
»Aye, das tut sie«, sagte er, leiser jetzt. »Das weiß ich genau.«
Eine Weile saßen wir schweigend da. Dann stand ich auf und sagte: »Nun, in diesem Fall … solltest du vielleicht ein Gebet für deinen Vater sprechen und dich dann an den Bug setzen.«
Ich war im zwanzigsten Jahrhundert ein- oder zweimal als Teilnehmerin an medizinischen Konferenzen in Philadelphia gewesen. Ich hatte die Stadt nie gemocht, weil ich sie schmutzig und unfreundlich fand. Jetzt war sie zwar anders, aber an Attraktion hatte sie auch nicht gewonnen. Die Straßen, die nicht gepflastert waren, waren Schlammwüsten, und an Straßen, die später einmal von schäbigen Reihenhäusern mit Gärten voller Müll, von kaputtem Plastikspielzeug und Motorradteilen gesäumt sein würden, standen jetzt baufällige Hütten mit Gärten voller Abfälle, Muschelschalen und angebundener Ziegen. Natürlich gab es keine barbarischen schwarzen Polizisten, doch die Kleinkriminellen waren schon ähnlich, und sie waren nicht zu übersehen, trotz der Allgegenwart der britischen Armee; in der Nähe der Wirtshäuser wimmelte es von Rotröcken, und sie marschierten in Kolonnen an unserem Wagen vorbei, die Musketen auf den Schultern.
Es war Frühling. Das musste ich der Stadt lassen. Überall standen Bäume, dank der von William Penn erlassenen Vorschrift, dass mindestens ein Fünftel der Fläche bewaldet bleiben sollte – selbst den profitgierigen Politikern des zwanzigsten Jahrhunderts war der Kahlschlag nicht völlig gelungen, auch wenn es vielleicht nur daran lag, dass sie noch nicht herausgefunden hatten, wie sich daraus Kapital schlagen ließ, ohne dass man sie erwischte –, und viele der Bäume standen in voller Blüte, sodass sich weiße Blütenblätter wie Konfetti über die Pferde ergossen, als der Wagen jetzt in den Stadtkern vordrang.
Auf der Hauptstraße in die Stadt trafen wir auf eine Armeepatrouille; sie hatten uns angehalten und wollten die Pässe des Fahrers und seiner beiden männlichen Passagiere sehen. Ich hatte eine anständige Haube aufgesetzt, sah niemanden direkt an und murmelte, dass ich auf dem Weg in die Stadt war, um meiner Tochter zu helfen, die ein Kind erwartete. Die Soldaten warfen einen kurzen Blick in den Lebensmittelkorb auf meinem Schoß, sahen mir jedoch nicht einmal ins Gesicht, bevor sie den Wagen weiterwinkten. Respektables Aussehen hatte durchaus seine Vorteile. Ich fragte mich, wie viele Geheimdienste wohl schon auf die Idee gekommen waren, sich älterer Damen zu bedienen? Man hörte zwar nicht oft von betagten weiblichen Spionen – aber das konnte ja durchaus der Beweis dafür sein, wie gut sie waren.
Fergus’ Druckerei befand sich nicht im elegantesten Viertel, aber nicht weit davon entfernt, und ich stellte erfreut fest, dass sie in einem ordentlichen roten Ziegelbau untergebracht war, der in einer Reihe ganz ähnlicher, solider, freundlich aussehender Häuser stand. Wir hatten nicht im Voraus geschrieben, dass ich kommen würde; der Brief wäre ohnehin nicht eher angekommen als ich. Guten Mutes öffnete ich die Tür.
Marsali stand an der Ladentheke und war damit beschäftigt, einige Papierstapel zu sortieren. Beim Klang der Glocke über der Tür blickte sie auf, blinzelte – und glotzte mich sprachlos an.
»Wie geht es dir, meine Liebe?«, sagte ich fröhlich und stellte den Korb hin, um rasch die Klappe in der Theke zu öffnen und Marsali in die Arme zu nehmen.
Sie sah halb tot aus, obwohl bei meinem Erscheinen pure Erleichterung in ihren Augen aufleuchtete. Sie fiel mir geradezu in die Arme und brach in Schluchzen aus, ein Gefühlsausbruch, den ich sonst nicht von ihr kannte. Unter beruhigenden Lauten tätschelte ich ihr den Rücken und war höchst alarmiert. Die Kleider hingen ihr lose auf den Knochen, und sie roch ungepflegt, weil sie sich das Haar schon zu lange nicht mehr gewaschen hatte.
»Alles wird gut«, wiederholte ich entschlossen zum dutzendsten Mal, und sie hörte auf zu weinen und trat einen Schritt zurück, während sie ein schmutziges Taschentuch aus ihrer Tasche holte. Zu meinem Schrecken sah ich, dass sie wieder schwanger war.
»Wo ist Fergus?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht.«
»Er hat dich verlassen?«, platzte ich entsetzt heraus. »Oh, dieser miese kleine –«
»Nein, nein«, sagte sie hastig und hätte bei allen Tränen fast gelacht. »Er hat mich nicht verlassen, ganz und gar nicht. Er ist nur untergetaucht – er wechselt alle paar Tage das Versteck, und ich weiß nicht, wo er sich gerade aufhält. Aber die Kinder können ihn finden.«
»Warum ist er denn untergetaucht? Nicht dass ich fragen muss, nehme ich an«, sagte ich mit einem Seitenblick auf die mächtige schwarze Druckerpresse, die hinter der Ladentheke stand. »Aber was war es im Besonderen?«
»Ein kleines Pamphlet für Mr Paine. Er veröffentlicht eine ganze Serie, weißt du, unter dem Titel ›Die amerikanische Krise‹.«
»Mr Paine – der mit dem Common Sense?«
»Aye, das ist er«, sagte sie und putzte sich die Nase. »Er ist ein netter Mann, aber Fergus sagt, man sollte nicht mit ihm trinken. Du weißt bestimmt, wie rührselig manche Männer werden, wenn sie betrunken sind, und wie unbeherrscht andere?«
»Oh, einer von dieser Sorte. Ja, das weiß ich. Wie weit bist du?«, widmete ich mich wieder einem Thema, das von allgemeinerem Interesse war. »Solltest du dich nicht hinsetzen? Du solltest nicht so lange stehen.«
»Wie weit …?« Ihre Miene war überrascht, und ihre Hand folgte unwillkürlich meiner Blickrichtung auf ihren leicht vorgewölbten Bauch. »Ach, das.« Sie wühlte unter ihrer Schürze und zog einen dicken Lederbeutel hervor, den sie sich um die Taille gebunden hatte.