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»Falls wir fliehen müssen«, erklärte sie. »Falls sie uns das Haus anzünden und ich mit den Kindern Hals über Kopf fortmuss.«

Ich nahm ihr den Beutel ab und stellte fest, dass er überraschend schwer war. Unter den Schichten aus Papieren und kleinen Spielzeugen hörte ich ein leises metallisches Klirren.

»Caslon 24 Punkt kursiv?«, fragte ich, und sie lächelte und wurde auf der Stelle mindestens zehn Jahre jünger.

»Alles außer dem ›X‹. Das musste ich wieder zu einem Klumpen zurechthämmern, den ich beim Goldschmied gegen Geld für Essen eingetauscht habe, nachdem Fergus gegangen war. Es ist natürlich immer noch ein ›X‹ da«, sagte sie und nahm die Tasche wieder an sich, »aber es ist tatsächlich aus Blei.«

»Musstest du denn die Garamond schon benutzen?« Jamie und Fergus hatten zwei komplette Typensätze in Gold gegossen und sie mit Ruß und Druckerschwärze verschmiert, bis sie nicht mehr von den vielen anderen Bleisatztypen in dem Setzkasten zu unterscheiden waren, der bescheiden hinter der Presse an der Wand stand.

Sie schüttelte den Kopf.

»Die hat Fergus mitgenommen. Er wollte sie vorsichtshalber an einem sicheren Ort vergraben. Du siehst müde aus von der Reise, Mutter Claire«, fuhr sie fort und beugte sich vor, um mich zu inspizieren. »Soll ich Joanie zum Wirtshaus schicken, damit sie uns einen Krug Cidre holt?«

»Das wäre herrlich«, sagte ich, immer noch ein wenig benommen von den Enthüllungen der letzten Minuten. »Aber was ist mit Henri-Christian – wie geht es ihm? Ist er hier?«

»Im Garten mit seinem Freund, glaube ich«, sagte sie. »Ich rufe ihn. Er ist immer ein bisschen müde, der Arme, weil er nicht gut schläft, und sein Hals ist so entzündet, dass er sich anhört wie ein Ochsenfrosch mit Verstopfung. Seiner Laune tut es aber keinen großen Abbruch, das sage ich dir.« Sie lächelte trotz ihrer Müdigkeit und lief durch die Tür in den Wohnbereich. »Henri-Christian!«, rief sie im Gehen.

Falls sie uns das Haus anzünden. Wer denn?, fragte ich mich, und mich schauderte. Die britische Armee? Loyalisten? Und wie schaffte sie das nur, allein die Werkstatt zu betreiben und sich um ihre Familie zu kümmern, mit einem Mann, der untergetaucht war, und einem kranken Kind, das man beim Schlafen nicht allein lassen konnte? Der Schrecken unserer Lage, hatte sie in ihrem Brief an Laoghaire geschrieben. Und das war vor Monaten gewesen, als Fergus noch zu Hause war.

Nun, jetzt war sie ja nicht mehr allein. Zum ersten Mal, seit ich in Schottland Abschied von Jamie genommen hatte, sah ich mehr in meiner Situation als eine Frage grimmiger Notwendigkeit. Ich würde ihm heute Abend schreiben, beschloss ich. Möglich – und das hoffte ich –, dass er Lallybroch verließ, bevor ihn mein Brief erreichte, doch in diesem Fall würden sich Jenny und der Rest der Familie ebenfalls freuen zu hören, was hier vor sich ging. Und falls Ian durch Zufall noch am Leben war … Doch daran wollte ich nicht denken; das Bewusstsein, dass Jamie bei seinem Tod frei sein würde, zu mir zu kommen, gab mir ein Gefühl der Leichenfledderei, als wünschte ich mir seinen möglichst baldigen Tod. Obwohl ich, wenn ich ehrlich war, glaubte, dass sich Ian den Tod vielleicht selbst so schnell wie möglich herbeiwünschte.

Diese morbiden Gedanken wurden durch Marsalis Rückkehr unterbrochen; Henri-Christian hüpfte neben ihr her.

»Grand-mère!«, rief er, als er mich sah, und sprang mir in die Arme, sodass ich beinahe hintenübergefallen wäre. Er war wirklich ein kräftiger kleiner Junge.

Er rieb mir liebevoll mit der Nase durch das Gesicht, und ich empfand eine bemerkenswerte Freude bei seinem Anblick. Ich küsste ihn und drückte ihn und spürte, wie sich das Loch, das Mandy und Jems Abschied in meinem Herzen hinterlassen hatte, ein wenig füllte. In Schottland, von Marsalis Familie getrennt, hatte ich fast vergessen, dass mir ja immer noch vier wunderbare Enkelkinder geblieben waren, und ich war froh, daran erinnert zu werden.

»Willst du ein Kunststück sehen, grand-mère?«, krächzte Henri-Christian eifrig. Marsali hatte recht; er klang wirklich wie ein Ochsenfrosch mit Verstopfung. Doch ich nickte, und er hüpfte mir vom Schoß, zog drei mit Kleie gefüllte Ledersäckchen aus der Tasche und begann sofort, erstaunlich geschickt damit zu jonglieren.

»Das hat ihm sein Pa beigebracht«, sagte Marsali nicht ohne Stolz.

»Wenn ich so groß bin wie Germain, bringt mir Pa auch bei, wie man Taschendieb wird!«

Marsali schnappte nach Luft und hielt ihm eine Hand vor den Mund.

»Henri-Christian, darüber darfst du nie sprechen«, sagte sie streng. »Mit niemandem. Hörst du?«

Er sah mich verwirrt an, nickte aber.

Der Schauder von vorhin meldete sich zurück. Betätigte sich Germain etwa – sozusagen – als professioneller Taschendieb? Ich sah Marsali an, doch sie schüttelte sacht den Kopf; wir würden uns später darüber unterhalten.

»Mach den Mund auf, und streck mir die Zunge heraus, Schätzchen«, sagte ich zu Henri-Christian. »Lass Omi in deinen Hals schauen – das hört sich ja schlimm an.«

»Aug-aug-aug«, sagte er und grinste breit, öffnete aber gehorsam den Mund. Schwacher Eitergeruch kam mir aus seinem weit geöffneten Mund entgegen, und selbst ohne beleuchtetes Laryngoskop konnte ich sehen, dass seine geschwollenen Mandeln ihm fast den gesamten Hals blockierten.

»Ach, du liebe Güte«, sagte ich und drehte seinen Kopf hin und her, um besser sehen zu können. »Ich bin erstaunt, dass er überhaupt essen kann, vom Schlafen ganz zu schweigen.«

»Manchmal kann er das auch nicht«, sagte Marsali, und ich hörte die Anspannung in ihrer Stimme. »Oft bekommt er nichts herunter außer einem bisschen Milch, und selbst die brennt ihm in der Kehle wie ein Messer. Armer Kleiner.« Sie hockte sich neben mich und strich Henri-Christian das feine dunkle Haar aus dem erröteten Gesicht. »Meinst du, du kannst ihm helfen, Mutter Claire?«

»Oh, ja«, sagte ich mit sehr viel mehr Zuversicht, als ich empfand. »Absolut.«

Ich spürte, wie die Anspannung mit einem Schlag von ihr abfiel, und die Tränen begannen, ihr lautlos über das Gesicht zu laufen. Sie zog Henri-Christians Kopf an ihre Brust, damit er sie nicht weinen sah, und ich nahm sie beide in die Arme, legte ihr die Wange an das Häubchen auf dem Haar und roch den abgestandenen Geruch ihrer Angst und ihrer Erschöpfung.

»Jetzt ist es gut«, sagte ich leise und rieb ihr den schmalen Rücken. »Ich bin hier. Jetzt kannst du schlafen.«

Marsali verschlief den Rest des Tages und die ganze Nacht. Ich war müde von der Reise, konnte aber auf dem großen Sessel am Feuer in der Küche dösen. Henri-Christian schnarchte zusammengerollt auf meinem Schoß. Zweimal hörte er im Lauf der Nacht auf zu atmen, und ich bekam seine Atmung zwar ohne Probleme wieder in Gang, doch ich konnte sehen, dass sofort etwas unternommen werden musste. Daher machte ich am Morgen ein kurzes Nickerchen, und nachdem ich mir das Gesicht gewaschen und etwas gegessen hatte, begab ich mich auf die Suche nach den Dingen, die ich brauchen würde.

Ich hatte zwar nur die einfachsten medizinischen Instrumente dabei, doch zur Entfernung der Mandeln oder Polypen brauchte man glücklicherweise auch kein kompliziertes Instrumentarium.

Ich wünschte, Ian wäre mit mir in die Stadt gekommen; ich hätte seine Hilfe gut gebrauchen können, genau wie Marsali. Doch es war gefährlich für einen Mann in seinem Alter; er konnte die Stadt nicht offen betreten, ohne von den britischen Patrouillen angehalten und ausgefragt und womöglich als verdächtige Gestalt festgenommen zu werden – die er ja mit Sicherheit war. Darüber hinaus … hatte er darauf gebrannt, sich auf die Suche nach Rachel Hunter zu machen.

Die Aufgabe, zwei Menschen – und einen Hund – zu finden, die sich von Kanada bis Charleston beinahe überall aufhalten konnten, und dies ohne Kommunikationsmöglichkeiten außer den eigenen Beinen und dem gesprochenen Wort, hätte jeden abgeschreckt, der weniger stur war als die Fraser-Männer. Doch so liebenswürdig er sein mochte – wenn es darauf ankam, war Ian genauso gut wie Jamie in der Lage, seinen Kurs zu verfolgen, ganz gleich was geschah.