»Dottie?«, sagte eine vertraute Stimme. »Weißt du vielleicht, wo – Oh, ich bitte um Verzeihung.« Lord John war in den Salon getreten und stehen geblieben, als er mich sah. Dann sah er mich tatsächlich, und ihm fiel die Kinnlade herunter.
»Wie schön, Euch wiederzusehen«, sagte ich freundlich. »Obwohl ich es bedaure zu hören, dass Euer Neffe krank ist.«
»Danke«, sagte er. Mit einem außerordentlich argwöhnischen Blick beugte er sich über meine Hand und küsste sie. »Ich bin entzückt, Euch wiederzusehen, Mrs Fraser«, fügte er hinzu, und es klang so, als wäre es ernst gemeint. Dann zögerte er einen Moment, doch natürlich musste er fragen: »Euer Mann …?«
»Er ist in Schottland«, sagte ich und fühlte mich geradezu gemein, weil ich ihn enttäuschen musste. Doch das Flackern in seinem Gesicht verschwand auf der Stelle wieder – er war ein Gentleman und ein Soldat. Er trug sogar tatsächlich eine Armeeuniform, was mich sehr überraschte.
»Ihr seid doch nicht in den aktiven Dienst zurückgekehrt, oder?«, fragte ich und zog die Augenbrauen hoch.
»Eigentlich nicht. Dottie, hast du denn noch nicht nach Mrs Figg gerufen? Mrs Fraser möchte doch sicher eine Erfrischung.«
»Ich bin gerade erst gekommen«, sagte ich hastig, als Dottie aufsprang und verschwand.
»Ist das so«, sagte er und verkniff sich höflich das Warum?, das seinem Gesicht so deutlich anzusehen war. Er wies mir einen Sessel zu und setzte sich seinerseits hin. Seine Miene war ausgesprochen merkwürdig, so als überlegte er, wie er etwas Peinliches aussprechen könnte.
»Ich bin entzückt, Euch zu sehen«, wiederholte er langsam. »Seid Ihr – ich möchte auf keinen Fall unhöflich erscheinen, Mrs Fraser, Ihr müsst mir verzeihen, aber … seid Ihr vielleicht hier, um mir eine Nachricht von Eurem Mann zu überbringen?«
Er konnte das kleine Licht nicht unterdrücken, das in seinen Augen aufleuchtete, und ich empfand beinahe Bedauern, als ich den Kopf schüttelte.
»Es tut mir leid«, sagte ich und stellte zu meiner Überraschung fest, dass es mir ernst war. »Ich bin hier, um Euch um einen Gefallen zu bitten. Nicht für mich – für meinen Enkel.«
Er blinzelte.
»Euren Enkel«, wiederholte er verständnislos. »Ich dachte, Eure Tochter … Oh! Natürlich, ich hatte ganz vergessen, dass der Adoptivsohn Eures Mannes – seine Familie ist hier? Ist es eines seiner Kinder?«
»Ja, ganz recht.« Ohne Umschweife erklärte ich ihm die Situation, beschrieb ihm Henri-Christians Zustand und erinnerte ihn daran, wie großzügig er mir damals das Vitriol und den Glasapparat übersandt hatte.
»Mr Sholto – der Apotheker an der Walnut Street? – hat mir erzählt, er hätte Euch vor einigen Monaten eine große Flasche Vitriol verkauft. Ich habe mich gefragt – ob Ihr es wohl zufälligerweise noch habt?« Ich versuchte erst gar nicht, einen Hehl aus meiner Hoffnung zu machen, und seine Miene wurde sanft.
»Ja, das habe ich«, sagte er, und zu meiner Überraschung lächelte er, als käme die Sonne hinter einer Wolke hervor. »Ich habe es für Euch gekauft, Mrs Fraser.«
Wir schlossen auf der Stelle eine Abmachung. Er würde mir nicht nur das Vitriol geben, sondern auch den Rest der medizinischen Ausrüstung erwerben, die ich benötigte, wenn ich mich bereit erklärte, seinen Neffen zu operieren.
»Dr. Hunter hat Weihnachten eine der Kugeln entfernt«, sagte er, »und dadurch hat sich Henrys Zustand ein wenig gebessert. Doch die andere ist immer noch in seinen Körper eingebettet, und –«
»Dr. Hunter?«, unterbrach ich ihn. »Ihr meint aber nicht Denzell Hunter, oder?«
»Doch«, sagte er und runzelte überrascht die Stirn. »Ihr wollt doch nicht sagen, dass Ihr ihn kennt?«
»Doch, genau das will ich sagen«, sagte ich und lächelte. »Wir haben schon mehrfach zusammengearbeitet, in Ticonderoga und in Gates’ Armee vor Saratoga. Aber was macht er denn in Philadelphia?«
»Er –«, begann er, wurde aber von Schritten unterbrochen, die leichtfüßig die Treppe herunterkamen. Während wir uns unterhielten, hatte ich vage Geräusche über uns wahrgenommen, aber nicht darauf geachtet. Jetzt jedoch blickte ich zur Tür, und mein Herz tat einen Freudensprung beim Anblick Rachel Hunters, die dort stehen geblieben war und mich anstarrte, den Mund zu einem perfekten, erstaunten »O« geformt.
Im nächsten Moment lag sie mir in den Armen und drückte mich so fest, dass ich um meine Rippen fürchtete.
»Freundin Claire!«, sagte sie, als sie mich schließlich losließ. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dich hier sehen … Das heißt, ich bin so froh – oh, Claire! Ian. Ist er mit dir zurückgekommen?« Ihre Miene war voller Sehnsucht und Angst, und Hoffnung und Argwohn jagten wie dahinrasende Wolken über ihre Gesichtszüge.
»Ja«, sagte ich. »Er ist aber nicht hier.« Schatten fiel auf ihr Gesicht.
»Oh«, sagte sie kleinlaut. »Wo –«
»Er ist auf der Suche nach dir«, sagte ich sanft und ergriff ihre Hände.
Die Freude flammte in ihren Augen auf wie ein Waldbrand.
»Oh!«, sagte sie in völlig verändertem Ton. »Oh!«
Lord John hüstelte höflich.
»Vielleicht wäre es ja unklug, wenn ich genauer wüsste, wo sich Euer Neffe aufhält, Mrs Fraser«, merkte er an. »Da ich davon ausgehe, dass er die Prinzipien Eures Mannes teilt. Nun denn. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, dann berichte ich Henry von Eurem Eintreffen. Ich nehme an, Ihr würdet ihn gern untersuchen?«
»Oh«, sagte ich, plötzlich wieder an den Grund meines Hierseins erinnert. »Ja. Ja, natürlich. Wenn es Euch nichts ausmacht …«
Er lächelte und sah Rachel an, deren Gesicht bei meinem Anblick weiß geworden war, jetzt aber vor Aufregung die Farbe eines roten Apfels angenommen hatte.
»Nicht im Geringsten«, sagte er. »Kommt nach oben, wenn Ihr so weit seid, Mrs Fraser. Ich erwarte Euch dort.«
Kapitel 88
Ziemlich unschön
Brianna fehlte mir tagaus, tagein, den Umständen entsprechend mehr oder weniger. Jetzt jedoch hätte ich sie besonders brauchen können. Sie hätte das Problem lösen können, wie man Henri-Christians Hals beleuchtete, da war ich mir sicher.
Ich hatte ihn im Vorderteil der Druckerei auf einen Tisch gelegt, um jeden Lichtstrahl zu nutzen, der zu uns hereindrang. Doch dies war Philadelphia, nicht New Bern. Wenn der Himmel nicht mit Wolken überzogen war, war er vom Rauch der Schornsteine vernebelt. Und die Straße war eng, die Gebäude auf der anderen Seite nahmen uns den Großteil des Lichtes.
Nicht dass es eine allzu große Rolle gespielt hätte. Denn das Zimmer hätte von flammendem Sonnenschein erfüllt sein können, und ich hätte in Henri-Christians Rachen immer noch nichts sehen können. Marsali hatte einen kleinen Spiegel, mit dem sie das Licht umlenken konnte, und das würde bei den Mandeln vielleicht helfen – die Polypen jedoch würde ich mithilfe des Tastsinns entfernen müssen.
Ich konnte die weiche, schwammige Kante eines Polypen just hinter dem Gaumensegel fühlen; vor meinem inneren Auge nahm sie Form an, während ich die Drahtschlinge vorsichtig darüberzog. Ich ging mit äußerster Sorgfalt vor, damit die Drahtkante nicht in meine Fingerspitze schnitt oder in den eigentlichen Körper des geschwollenen Polypen. Ein Blutstrom würde folgen, wenn ich ihn abschnitt.
Ich hatte Henri-Christian schräg hingelegt; Marsali hielt seinen reglosen Körper fest auf der Seite. Denzell Hunter stützte seinen Kopf und drückte ihm den mit Äther getränkten Bausch fest auf die Nase. Die einzige Methode, die ich zum Absaugen hatte, war mein eigener Mund; ich würde den Jungen rasch drehen müssen, nachdem ich geschnitten hatte, damit ihm das Blut aus dem Mund laufen konnte, bevor es ihm in den Hals strömte und ihn erstickte. Das kleine Kautereisen lag mit dem breiten Ende in einem Becken mit heißen Kohlen. Das würde wahrscheinlich das Kniffligste sein, dachte ich und hielt inne, um mich zu sammeln und Marsali mit einem Kopfnicken zu beruhigen. Ich wollte ihm ja nicht die Zunge oder den Mund ansengen, und es würde alles glitschig sein …