Ich zog ruckartig am Griff der Schlinge, und der kleine Körper zuckte unter meiner Hand.
»Festhalten«, sagte ich ruhig. »Etwas mehr Äther, bitte.«
Marsali atmete angestrengt, und ihre Fingerknöchel waren so weiß wie ihr Gesicht. Ich spürte, wie sich der Polyp sauber ablöste, wie er davonglitt, und zog ihn mit zwei Fingern aus seinem Hals, bevor er ihm in die Speiseröhre flutschen konnte. Drehte den Kopf des Jungen rasch zur Seite und roch den metallischen Geruch des frischen Blutes. Ich ließ das abgetrennte Gewebe in ein Schälchen fallen und nickte Rachel zu, die das Kautereisen aus den Kohlen holte und es mir vorsichtig in die Hand gab.
Die andere Hand hatte ich noch in seinem Mund, schob Zunge und Gaumenzäpfchen beiseite, einen Finger auf der Stelle, wo der Polyp gewesen war, um mein Ziel zu markieren. Das Kautereisen fuhr mit weiß glühendem Schmerz an meinem Finger entlang durch seinen Hals, und ich stieß einen kleinen Zischlaut aus, doch meinen Finger bewegte ich nicht. Es roch versengt nach brennendem Blut und Gewebe, und Marsali stieß ein leises, panisches Geräusch aus, doch sie ließ den Körper ihres Sohnes nicht los.
»Es ist gut, Freundin Marsali«, flüsterte Rachel ihr zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Er atmet gut; er hat keine Schmerzen. Ihm leuchtet das Licht, es wird alles gut.«
»Ja, das wird es«, sagte ich. »Könntest du bitte das Eisen wieder nehmen, Rachel? Und bitte die Schlinge in den Whisky tauchen? Einen haben wir geschafft; drei müssen wir noch.«
»So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagte Denzell Hunter etwa zum fünften Mal. Er ließ die Augen von dem Stoffbausch in seiner Hand zu Henri-Christian wandern, der jetzt in den Armen seiner Mutter zu erwachen – und zu wimmern begann. »Ich hätte es niemals geglaubt, Claire, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte!«
»Nun, ich dachte, es wäre gut, wenn du es siehst«, sagte ich und wischte mir mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Ich war von einem tiefen Wohlgefühl erfüllt. Die Operation war rasch vonstattengegangen – nicht mehr als fünf oder sechs Minuten, und schon kam Henri-Christian hustend und weinend wieder zu sich. Germain, Joanie und Félicité schauten mit gespannten Gesichtern von der Tür aus in die Küche, und Germain hielt seine Schwestern fest an den Händen. »Wenn du es möchtest, lehre ich dich, ihn herzustellen.«
Sein Gesicht, das ohnehin schon vor Freude über die gelungene Operation strahlte, begann zu leuchten.
»Oh, Claire! Welch ein Geschenk! Schneiden zu können, ohne dass es schmerzt; einen Patienten völlig reglos zu halten, ohne ihn festzubinden. Es – es ist unvorstellbar.«
»Nun, es ist alles andere als perfekt«, warnte ich ihn. »Und Äther ist sehr gefährlich – sowohl herzustellen als auch zu benutzen.« Ich hatte den Äther tags zuvor im Holzschuppen destilliert; er war eine hochgradig flüchtige Substanz, und es wäre allzu gut möglich gewesen, dass er explodierte, den Schuppen in Brand setzte und mich dabei umbrachte. Alles war gut gegangen, obwohl mir bei der Vorstellung, es noch einmal zu tun, der Magen hohl wurde und die Hände zu schwitzen begannen.
Ich ergriff die Tropfflasche und schüttelte sie sacht; mehr als drei Viertel voll, und ich hatte noch eine zweite, etwas größere Flasche.
»Glaubst du, es wird reichen?«, fragte Denny, als er begriff, worüber ich nachdachte.
»Das kommt ganz darauf an, was wir vorfinden.« Trotz der technischen Probleme war Henri-Christians Operation sehr einfach gewesen. Henry Greys Operation würde komplizierter werden. Ich hatte ihn untersucht, und Denzell hatte neben mir gestanden, um mir zu erklären, was er bei der vorhergehenden Operation gesehen und getan hatte, in deren Verlauf er eine Kugel entfernt hatte, die direkt unterhalb der Bauchspeicheldrüse saß. Sie hatte eine lokale Reizung ausgelöst und Narbengewebe erzeugt, doch sie hatte keine wichtigen Organe verletzt. Die andere Kugel hatte er nicht finden können, da sie sehr tief im Körper festsaß, irgendwo unter der Leber. Er fürchtete, dass sie in der Nähe der Pfortader steckte, und hatte daher nicht gewagt, mit allzu viel Druck danach zu suchen, da eine Blutung mit großer Sicherheit zum Tode geführt hätte.
Ich war mir jedoch einigermaßen sicher, dass die Kugel Henrys Gallenblase und seinen Gallengang nicht verletzt hatte. Angesichts seiner allgemeinen Symptomatik vermutete ich, dass die Kugel den Dünndarm durchbohrt hatte, die Eintrittswunde aber gleich wieder zugesengt hatte, denn sonst wäre der Junge innerhalb von Tagen an der Peritonitis gestorben.
Möglich, dass sie sich in der Darmwand verkapselt hatte; das wäre das beste Szenario. Möglich, dass sie im Darm selbst steckte, und das wäre gar nicht gut, obwohl ich erst sagen konnte, wie schlimm, wenn ich es sah.
Doch wir hatten Äther. Und die schärfsten Skalpelle, die mit Lord Johns Geld zu kaufen waren.
Nach einer Diskussion zwischen den beiden Ärzten, die Lord John quälend lang erschien, blieb das Fenster zum Teil offen stehen. Dr. Hunter beharrte auf der wohltuenden Wirkung frischer Luft, und Mrs Fraser pflichtete ihm wegen der Ätherdämpfe bei, doch sie sprach fortwährend von etwas, das sie Keime nannte, weil sie sich sorgte, dass diese zum Fenster hereinkommen und ihr »Operationsfeld« kontaminieren könnten. Sie redet, als betrachtete sie dies wie ein Schlachtfeld, dachte er, doch dann warf er einen Blick auf ihr Gesicht und begriff, dass es in der Tat genauso war.
Er hatte noch nie eine Frau erlebt, die so aussah, dachte er, trotz seiner Sorge um Henry fasziniert. Sie hatte sich ihr empörendes Haar nach hinten gebunden und ihren Kopf sorgfältig in ein Tuch gewickelt wie eine Negersklavin. Jetzt, da ihr Gesicht so bloß lag, dass die zierlichen Knochen hervortraten, mit ihrer gebannten Miene, den gelben Falkenaugen, die unablässig hin und her huschten, war sie die unweiblichste Frau, die ihm je begegnet war. Sie hatte das Aussehen eines Generals, der seine Männer vor der Schlacht auf ihre Posten wies, und er spürte, wie sich das Knäuel der Schlangen in seinem Bauch ein wenig löste.
Sie weiß, was sie tut, dachte er.
Da heftete sie ihre Augen auf ihn, und er richtete sich auf, weil er instinktiv Befehle erwartete – zu seinem äußersten Erstaunen.
»Möchtet Ihr bleiben?«, fragte sie.
»Ja, natürlich.« Er fühlte sich ein wenig kurzatmig, doch seiner Stimme war kein Zweifel anzuhören. Sie hatte ihm offen gesagt, wie Henrys Chancen standen – nicht gut, doch es gab eine Chance –, und er war fest entschlossen, bei seinem Neffen zu bleiben, ganz gleich, was geschah. Falls Henry starb, würde zumindest jemand bei ihm sein, der ihn liebte. Obwohl er eigentlich fest entschlossen war, nicht zuzulassen, dass Henry starb.
»Dann setzt Euch dort drüben hin.« Sie wies kopfnickend auf einen Hocker auf der anderen Seite des Bettes, und er setzte sich und lächelte Henry ermutigend zu. Henry sah zu Tode verängstigt, aber entschlossen aus.
Ich kann so nicht mehr leben, hatte er am Abend zuvor gesagt und sich endlich entschlossen, der Operation zuzustimmen. Ich kann es einfach nicht.
Mrs Woodcock hatte ebenfalls darauf beharrt, zugegen zu sein, und nach kurzer Unterweisung hatte Mrs Fraser erklärt, sie könne Henry den Äther verabreichen. Diese mysteriöse Substanz stand nun auf der Kommode, und ein schwacher, widerlicher Geruch stieg von ihr auf.
Mrs Fraser reichte Dr. Hunter etwas, das wie ein Taschentuch aussah, und hob sich ein weiteres an das Gesicht. Es war ein Taschentuch, wie Grey sah, doch an seinen Ecken waren Fäden befestigt. Diese band sie sich hinter dem Kopf zusammen, und Hunter folgte pflichtschuldigst ihrem Beispiel.
Da Grey an die zügige Brutalität der Armeechirurgen gewöhnt war, erschienen ihm Mrs Frasers Vorbereitungen extrem umständlich: Sie wischte Henry mehrfach mit einer Alkohollösung über den Bauch, die sie angemischt hatte, und redete mit leiser, beruhigender Stimme durch ihre Räubermaske auf ihn ein. Sie spülte sich die Hände ab – und ließ Hunter und Mrs Woodcock das Gleiche tun – und die Instrumente, sodass das ganze Zimmer zu riechen begann wie eine billige Destillerie.