Der Nebel hob sich vom Wasser. Jetzt konnte er sie sehen – nicht mehr als hundert Meter von ihm entfernt, eine kleine Flotte aus Ruderbooten und hier und da einem Fischerboot, die sich langsam auf einer Wasseroberfläche hin und her bewegte, die so glatt war wie Glas – und eine beständig schrumpfende Menge von Männern am Ufer, deren Hände nicht von ihren Pistolen wichen, während sie sich nervös nach möglichen Verfolgern umsahen.
Wenn sie wüssten, dachte er bitter.
Im Moment machte er sich keine Gedanken um seine Zukunft; die Erniedrigung, als ohnmächtiger Zeuge mit anzusehen, wie die gesamte amerikanische Armee vor seiner Nase entwischte – und die Vorstellung, dass er verpflichtet war, zurückzukehren und General Howe von diesem Ereignis zu berichten –, dies nagte so an ihm, dass es ihm gleichgültig gewesen wäre, wenn die Frauen vorgehabt hätten, ihn zu braten und zu essen.
Er konzentrierte sich so auf die Szene am Strand, dass ihm nicht sogleich der Gedanke kam, dass nicht nur er jetzt die Amerikaner sehen konnte, sondern dass auch er für sie sichtbar wurde. Die Kontinentalsoldaten und Milizionäre waren allerdings so gebannt mit ihrem Rückzug beschäftigt, dass ihn keiner von ihnen bemerkte, bis sich einer von ihnen abwandte, um den höher gelegenen Teil des Strandes nach etwas abzusuchen.
Der Mann erstarrte, warf einen kurzen Blick auf seine ahnungslosen Kameraden und schritt dann zielsicher über den Kies auf ihn zu.
»Was ist denn das, Mutter?«, fragte er. Er trug die Uniform eines Kontinentaloffiziers und war von ähnlichem Körperbau wie die beiden Frauen, wenn auch um einiges größer. Sein Gesicht war zwar nach außen hin ruhig, doch hinter seinen blutunterlaufenen Augen rumorten die Gedanken.
»Wir haben ein bisschen geangelt«, sagte die Frau mit der Pfeife. »Haben dieses rote Fischlein gefangen, aber ich glaube, wir werfen ihn wieder rein.«
»Aye? Vielleicht aber besser erst später.«
William hatte sich beim Auftauchen des Mannes aufrecht hingesetzt und funkelte nun zu ihm hoch, so grimmig er konnte.
Der Mann hob den Blick in den Nebel, der sich hinter William auflöste.
»Gibt es hier noch mehr von deiner Sorte, Junge?«
William schwieg. Der Mann seufzte, holte mit der Faust aus und versetzte ihm einen Hieb in die Magengrube. William krümmte sich, fiel von seinem Felsen und blieb würgend im Sand liegen. Der Mann packte ihn am Kragen und zog ihn hoch, als wäre er leicht wie eine Feder.
»Antworte mir, Junge. Ich habe nicht viel Zeit, und du willst bestimmt nicht, dass ich überstürzt frage.« Sein Tonfall war gelassen, doch er fasste an das Messer in seinem Gürtel.
William wischte sich den Mund an der Schulter ab, so gut es ging, und wandte dem Mann das Gesicht zu. Seine Augen brannten. Nun gut, dachte er und spürte, wie sich eine gewisse Ruhe über ihn legte. Wenn das der Punkt ist, an dem ich sterbe, sterbe ich wenigstens nicht umsonst. Dieser Gedanke war beinahe erleichternd.
Die Schwester der Pfeifenraucherin setzte dem Theater jedoch ein Ende, indem sie dem Fragesteller ihre Muskete in die Rippen stieß.
»Wenn es noch mehr gäbe, Schwester, hätte ich sie längst gehört«, sagte sie ein wenig angewidert. »Soldaten sind nun mal nicht leise.«
»Das stimmt«, pflichtete ihr die Raucherin bei und zog die Pfeife aus dem Mund, um auszuspucken. »Der hier hat sich nur verlaufen, das siehst du doch. Und du siehst auch, dass er dir nichts sagen wird.« Sie grinste William vertraulich an, sodass ihr letzter gelber Eckzahn zum Vorschein kam. »Lieber sterben als reden, was, Junge?«
William neigte steif den Kopf, und die Frauen kicherten. Es gab kein anderes Wort dafür, sie kicherten über ihn.
»Mach, dass du fortkommst«, sagte die Tante zu dem Mann und wies mit der Hand auf den Strand hinter ihm. »Sonst fahren sie ohne dich.«
Der Mann sah sie nicht an – sein Blick war unverwandt auf William gerichtet. Doch im nächsten Moment nickte er kurz und machte auf dem Absatz kehrt.
William spürte eine der Frauen in seinem Rücken; etwas Scharfes berührte sein Handgelenk, und die Kordel, mit der sie ihn gefesselt hatten, gab nach. Er hätte sich gern die Handgelenke gerieben, tat es aber nicht.
»Geh, Junge«, sagte die Pfeifenraucherin beinahe sanft. »Bevor dich noch einer sieht und auf dumme Gedanken kommt.«
Er ging.
Ganz oben am Strand blieb er stehen und blickte zurück. Die alten Frauen waren verschwunden, doch der Mann saß am Heck eines Ruderbootes, das sich schnell vom inzwischen fast leeren Ufer entfernte. Der Mann beobachtete ihn.
William wandte sich ab. Inzwischen war die Sonne zu sehen, ein blasser orangefarbener Kreis, der durch den Dunst brannte. Sie senkte sich dem Horizont zu, also früher Nachmittag. Er wandte sich landeinwärts und ging nach Südwesten, doch selbst als der Strand bereits längst außer Sichtweite war, spürte er noch ein Augenpaar in seinem Rücken.
Sein Magen schmerzte, und sein einziger Gedanke waren die Worte, die Leutnant Ramsay zu ihm gesagt hatte. Schon mal von einer Dame namens Kassandra gehört?
Kapitel 7
Eine ungewisse Zukunft
Lallybroch
Inverness-Shire, Schottland
September 1980
Die Briefe waren nicht alle datiert, aber manche waren es. Brianna blätterte vorsichtig das obere halbe Dutzend durch, und mit dem Gefühl, auf dem Gipfel einer Achterbahn zu schweben, wählte sie einen aus, auf dessen Außenseite 2. März AD 1777 stand.
»Ich glaube, das ist der nächste.« Sie konnte nur mit Schwierigkeiten durchatmen. »Er ist – dünn. Kurz.«
So war es; es waren nicht mehr als anderthalb Seiten, doch der Grund für die Kürze des Briefes war offensichtlich; ihr Vater hatte ihn vollständig selbst geschrieben. Der Anblick seiner ungeschickten, hartnäckigen Handschrift tat ihr in der Seele weh.
»Wir werden niemals zulassen, dass ein Lehrer versucht, Jemmy zu zwingen, mit der rechten Hand zu schreiben«, sagte sie heftig zu Roger. »Niemals!«
Ihr Ausbruch überraschte ihn – und belustigte ihn zugleich ein wenig –, doch er stimmte ihr zu.
2. März, Anno Domini 1777
Fraser’s Ridge, in der Kolonie North Carolina
Meine liebste Tochter,
wir bereiten uns nun darauf vor, nach Schottland zu reisen. Nicht für immer, nicht einmal für lange. Mein Leben – unser Leben – liegt hier in Amerika. Und in aller Aufrichtigkeit würde ich mich lieber von Hornissen zu Tode stechen lassen, als noch einmal den Fuß an Bord eines Schiffes zu setzen; ich versuche, mich nicht übermäßig mit dieser Vorstellung zu befassen. Doch es gibt zwei wichtige Gründe, die mich zu diesem Entschluss treiben.
Hätte ich die Gabe des Wissens nicht, das Du, Deine Mutter und Roger Mac mir mitgebracht habt, so würde ich wahrscheinlich denken – wie es die große Mehrheit der Menschen in der Kolonie denkt –, dass der Kontinentalkongress keine sechs Monate Bestand haben wird und Washingtons Armee noch schneller der Vergangenheit angehören wird. Ich habe selbst mit einem Mann aus Cross Creek gesprochen, welcher (ehrenhaft) aus der Kontinentalarmee entlassen wurde, weil er eine eiternde Armverletzung hatte – Deine Mutter hat sich natürlich darum gekümmert; er hat furchtbar geschrien, und ich wurde dazu zwangsrekrutiert, mich auf ihn zu setzen. Dieser sagt mir, dass Washington nicht über mehr als ein paar Tausend reguläre Soldaten verfügt, die alle nur sehr dürftig mit Ausrüstungsgegenständen, Kleidern und Waffen ausgestattet sind und alle auf ihren Sold warten, den sie wahrscheinlich niemals bekommen werden. Die meisten seiner Männer sind Milizionäre mit kurzfristigen Kontrakten über zwei oder drei Monate, deren Zahl jetzt zunehmend weiter schrumpft, weil sie zur Aussaat nach Hause müssen.